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fehe



Kritische Theoriebildung zu Antisemitismus, Rassismus und Reaktionen auf Einwanderung

1. Was ist der Fall?

 

Eine Vielfalt von Forschungsansätzen untersucht Vorurteilsstrukturen, in sozialpsychologischer, diskursanalytischer und interaktionstheoretischer Hinsicht. Es ist nicht nur von theoretischem Interesse, dass Gruppen von Menschen für fremd, minderwertig, perfide und bedrohlich gehalten werden. Das kann sich darauf auswirken, wie Menschen in einer Gesellschaft begegnet wird und ob sie Gefahr laufen, verfolgt zu werden. Die Würde, Unversehrtheit und Freiheit Einzelner oder Gruppen der Bevölkerung hängt davon ab, dass Vorurteile nicht mobilisiert werden; Aufklärung trägt dazu bei, stößt aber an Grenzen. Nicht einmal die seit vielen Jahrzehnten währende gesellschaftliche Konfrontation und Auseinandersetzung mit dem massiven Zivilisationsbruch durch Nationalsozialismus und Holocaust hat dazu geführt, dass das Bedrohungspotential von Antisemitismus und Rassismus erschöpft wäre. Zwar ist es einerseits zu einer Diskreditierung und Bewusstwerdung von Vorurteilsstrukturen gekommen, andererseits aber auch zu deren Stabilisierung, als Abwehrphänomen und reaktiv als Element nationaler Identifikation.

 

Die Untersuchungen der Kritischen Theorie zu den gesellschaftlichen und sozialpsychologischen Mechanismen von Antisemitismus und Rassismus werden auch gegenwärtig in einigen Forschungsansätzen aufgegriffen und weiter entwickelt. Vielfach gelten sie aber auch als „Klassiker“, die im Regal stehen bleiben. Dazu trägt möglicherweise eine Rezeption bei, die auf der einen Seite die empirischen Untersuchungen zur „Autoritären Persönlichkeit“ der sozialpsychologischen Forschung zuordnet und auf der anderen Seite die „Dialektik der Aufklärung“ der Philosophie und soziologischen Theorie. Beide Arbeiten sind aber während des amerikanischen Exils entstanden, auch in Bezug aufeinander. In der Zusammenarbeit von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno an den „Philosophischen Fragmenten“, die 1947 als „Dialektik der Aufklärung“ veröffentlicht wurden, sowie in dem interdisziplinären Forschungsprojekt zur „Authoritarian Personality“, an dem sich Adorno beteiligte, wurden Antisemitismus und Autoritarismus in theoretischer und empirischer Hinsicht erforscht. Gerade aus diesen Arbeits- und Forschungserfahrungen entwickelten sich, wie ich zeigen möchte, zentrale Perspektiven einer gesellschaftskritischen Theoriebildung nicht nur transzendenter, sondern auch immanenter Kritik gesellschaftlicher Lebensbedingungen.

 

Im folgenden beziehe ich mich auf einige Aspekte der Berkeley-Studie zur „Authoritarian Personality“ sowie auf Adornos Analysen von Propaganda-Reden, die mir für eine Analyse von Vorurteilsstrukturen und deren Propagierung in der Gegenwart als besonders relevant erscheinen. Bei vielen Unterschieden zeichnen sich auch Parallelen zur neueren qualitativ-interpretativen Sozialforschung ab, die sich auf andere Wissenschaftstraditionen gründet. Eine Übereinkunft sehe ich darin, dass für die Kritik gesellschaftlicher Lebensbedingungen, institutioneller Fremdbestimmung und sozialer Stigmatisierung einem Subjektbegriff Schlüsselfunktion zukommt, der Handeln nicht nur als Initiative, Planung und Entscheidung definiert, sondern dazu auch die Anstrengungen zählt, prekäre und schwer bestimmbare Lebensverhältnisse zu gestalten und in Erleidensprozessen gegenzusteuern. Eine weitere Übereinkunft liegt, so meine ich, darin begründet, dass gerade die Rekonstruktion von Einzelfällen gesellschaftliche und politische Dimensionen als strukturelle Bedingungen von Handeln und Erleiden aufzeigen kann. Aus dieser Sichtweise heraus spreche ich auch von „kritischer Theoriebildung“, um gerade die Aspekte Kritischer Theorie zu akzentuieren, die in der qualitativ-interpretativen Sozialforschung stärkere Beachtung verdienten, um sich mit ihnen auseinander zu setzen. Es geht hier, mit anderen Worten, um roots und insbesondere um routes, also eine Klärung der Vorgehensweisen subjektgerichteter, gesellschaftskritischer Forschung.

 

Gerade das Verhältnis zwischen Fallrekonstruktion und einer theoretischen Bestimmung dessen, was in gesellschaftlicher Hinsicht der Fall ist, gehört zu den soziologischen Grundfragen, die das Wirklichkeitsverständnis und auch das professionelle Selbstverständnis von Forschern betreffen und dazu führen können, dass der jeweils anderen Fraktion streitig gemacht wird, angemessene und sinnvolle Aussagen und Erklärungen abzugeben. Die Fraktionslinien verlaufen zwar noch teilweise zwischen Verfechtern quantitativer und qualitativer Vorgehensweisen der Forschung, es ist aber schon erwiesen, dass beide Arten von Vorgehensweisen auf produktive Weise in Untersuchungen integriert sein können. Strittig bleibt dennoch die Bedeutung des Einzelfalls. Aus der Sicht vieler Forscher ist er eine quantité négligéable: er dient der Illustration, aber nicht der Theoriebildung.

Dazu möchte ich diskutieren, inwiefern der Analyse des Einzelfalls ein erkenntnistheoretisches Potential zukommen kann, das auf subjektive und kollektive Wirkungsweisen von Vorurteilsstrukturen, auf deren strukturelle Bedingungen hinweist, und mich auch darauf beziehen, wie es sich mit der Analyse von Einzelfällen in der Forschung der Kritischen Theorie zu Vorurteilsstrukturen und zu Propaganda verhält.

Schließlich werde ich wenigstens einige Fragen dazu stellen, inwiefern sich die Analysen zu Antisemitismus und Rassismus auf die Untersuchung von Reaktionen auf Einwanderung übertragen lassen.

Beginnen möchte ich mit einem Beispiel dafür, dass das Erklärungspotential eines Einzelfalles nicht ausgeschöpft wird, wenn dieser nur zur Illustration dienen soll und zentrale gesellschaftliche und politische Dimensionen, die sich aus diesem Fall erschließen, nicht thematisiert werden.

 

2. Ein Beispiel: der Einzelfall, der nur Illustration sein soll

 

Bei diesem Beispiel beziehe ich mich auf die 14. Jugendstudie der Deutschen Shell (2002), in der es um das Politikverständnis Jugendlicher geht. Dazu gehören Fragen, die sich auf demokratische oder aber autoritäre Einstellungen und auf Haltungen gegenüber Fremden beziehen. Es wird eine Typenbildung vorgestellt, die aus „Idealisten“, „Unauffälligen“, „Machern“ und „Materialisten“ besteht. Unter Bezug auf Herbert Marcuse wird darauf verwiesen, dass rechtsextreme Jugendliche als diejenigen, die sich rücksichtslos für den eigenen materiellen Nutzen und Machtvorteil durchsetzten, potentiell unter den „Materialisten“ zu verorten seien. Als aktuell interessanter Typus wird der des „Machers“ diskutiert.

Nach den Ergebnissen der repräsentativen Befragung werden fünf ausführliche Porträts „engagierter Jugendlicher“ vorgestellt, es ist nicht ersichtlich, ob sie Beispiele für „Idealisten“ oder „Macher“ sein sollen. Dazu zählen eine Greenpeace-Aktivistin, ein Junger Liberaler, eine Attac-Aktivistin, ein Organisator des Störtebeker-Netzes und ein Aktivist gegen Internet-Zensur. Der vierte in dieser Reihe „engagiert sich für eine nationale Wende“, sein Porträt ist mit einem Interviewzitat betitelt: „Wenn man eine Überzeugung hat, ist das die Hauptsache“. In der zweiseitigen Zusammenfassung erfahren wir über Robert R.: nach dem „Mitschwimmen in der rechten Szene“, während der „üblichen Alkohol-Exzesse“,

„wurde er straffällig und schließlich wegen Körperverletzung für 12 Monate in der JVA Neubrandenburg inhaftiert. In dieser Zeit wurde er intensiv von der „Hilfsgemeinschaft nationaler Gefangener“ (HNG) betreut, für die er heute ebenfalls tätig ist. Mit deren Hilfe beschloss er, seine politischen Ziele nicht mehr in Schlägereien zu artikulieren. sondern „in geordneten Bahnen“ politisch aktiv zu sein“ (2002, 332).

 

Ferner lesen wir

„Politik bedeutet für ihn in erster Linie, seine Meinung vertreten zu können. „Wir haben Meinungsfreiheit und dass wir das auch sagen dürfen, was wir wollen. Uns nicht verstecken müssen.“ Sein ideales politisches System ist das des „Dritten Reiches“ “ (2002, 333).

 

In der Zusammenfassung und dem nachfolgenden 18seitigen Interview steht vieles, dass Aufschluss über rechtsextreme Überzeugungen geben kann sowie darüber, wie sie vertreten werden. Es gibt auch Anhaltspunkte dafür, wie diese Überzeugungen für einen Jugendlichen wie Robert R. zum Schwerpunkt seiner Selbstthematisierung werden konnten, zum übergreifenden biographischen Thema. Allerdings wird dies nicht herausgearbeitet, das Interview dient ebenso wie die anderen dazu, die Vielfalt politischer Aktivitäten Jugendlicher, insbesondere im Internet, zu zeigen. Es wird nicht einmal erklärt und kommentiert, worauf sich Robert R. bezieht. So erscheint die HNG als eine Art sozialarbeiterischer Verein, der im öffentlichen Interesse eine Resozialisierungsaufgabe erfüllt, indem inhaftierte Gewalttäter betreut werden und versucht wird, sie „auf die richtige Bahn zu kriegen“ (340). Kein Kommentar weist darauf hin, dass die „Hilfsgemeinschaft für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V.“ eine neonazistische Vereinigung ist, die seit ihrer Gründung 1979 viele inhaftierte Jugendliche rekrutiert hat.

Hier interessiert insbesondere, wie es zu verstehen ist, dass die unkommentierte Selbstdarstellung des rechtsextremen Aktivisten Robert R. und seiner „Überzeugung“ als eines von fünf Porträts „engagierter Jugendlicher“ in die Shell-Studie aufgenommen wurde. Inwiefern werden hierdurch Leser der Shell-Studie informiert? Was bedeutet es für die öffentliche und die wissenschaftliche Diskussion zu politischen Einstellungen und zum politischem Engagement Jugendlicher?

Informativ an dem relativ ausführlich wieder gegebenen Interview ist der lebensgeschichtliche Zusammenhang der Elemente rechtsextremer Ideologie, der in Umfragen nicht auftaucht. So wird deutlich, um einige Aspekte zu nennen, dass Robert R. propagandistische Aktivitäten im Internet und im Rahmen der HNG als Arbeit ansieht; diese Arbeit gehört für ihn neben seiner Ausbildung zum Koch auf strukturierende Weise zum Tagesablauf, gleichzeitig fasst er sie als Pflichterfüllung auf. Er begreift die politische Mobilisierung von Schülern, vor allem an Hauptschulen, als wichtiges Betätigungsfeld. Zwar bedauert er, dass seine Eltern ihn dazu gedrängt haben, statt des Realschulabschlusses eine Ausbildung zu machen, er nimmt aber immer noch die autoritäre Perspektive ein, wenn er von sich selbst sagt, er sei ein schwieriges Kind gewesen. Bereits als Kind hat er sich – in der DDR – für NS-Militärführer interessiert; möglich wäre, dass dieses Interesse von seinen Großeltern initiiert wurde. Hinzu kommen weitere ideologische Elemente, die argumentativ begründet werden, beispielsweise eine stark eingeschränkte Gleichberechtigung für Frauen, da nur Männer autoritäre Führung übernehmen könnten; einen zu hohen politischen Einfluss „der Juden“, eine verklausulierte Leugnung des Holocaust („Gruppen, die im Nationalsozialismus als verfolgt galten“); eine – ebenfalls verklausuliert formulierte – prinzipielle Andersartigkeit „der Ausländer“; die Erwartung des Zusammenbruchs des „amerikanischen Weltsystems“, der dekadenten deutschen Konsumgesellschaft und der Etablierung einer rechten Herrschaft (mit der persönlichen Erwartung, nach einer „nationalen Wende“ Bürgermeister zu werden).

 

Die lebensgeschichtlichen Zusammenhänge und die Argumentationen werden jedoch in der Shell-Studie nicht diskutiert, es wird auf dieses Interview überhaupt nicht eingegangen und auch nicht auf den Rechtsextremismus Jugendlicher als Gruppen- und Massenphänomen. Es findet sich in der Studie insgesamt nur eine kurze Erklärung, die „Extremistische Politorientierungen als männliche Problembewältigungsstrategie“ ausweist und auf andere Untersuchungen Bezug nimmt, die „bestätigen, dass extremistische Orientierungen auf den subjektiven Eindruck von Jugendlichen verweisen, die Kontrolle über die Gestaltung wichtiger Lebensbereiche verloren zu haben und in die soziale Isolation zu geraten“; besonders junge Männer aus den neuen Bundesländern „sind anfällig für rechtsgerichtete Aggressionen gegen Schwächere“ (2002, 42).

Dass rechtsextreme Jugendliche Schwächere anfallen, weil sie selbst „anfällig“ sind, stellt eine missverstandene subjektbezogene Perspektive da, aus der heraus gerade nicht erklärt wird, was der Fall ist. Die Leerstelle eines kritischen Subjektbegriffs in dieser soziologischen Herangehensweise wird durch ein scheinbares „Verstehen“ aufgefüllt, das einem alltagstheoretischen Verständnis nahe kommt. Wie sind sie zu Tätern geworden? Erst die fallrekonstruktive Analyse kann sowohl ihr Handeln als auch dessen Bedingtheit und Verstrickungen klären und damit, auf welche Weise sie zu Exponenten gesellschaftlicher Konfliktfelder werden konnten; welches, mit anderen Worten, die biographischen, gruppen- und familienspezifischen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, dann die Prozesse und Mechanismen ihrer Gruppenzugehörigkeit sind, die ihre Täterschaft ermöglichen. Ansetzen sollte dies daran, was sie thematisieren, wie sie sich äußern und selbst präsentieren.

In der Darstellung von Robert R. wird ausgespart, was er getan hat und nur erwähnt, dass er straffällig und inhaftiert wurde. Auch was er sagt, spielt keine Rolle. Dass er die Zeit des Nationalsozialismus für die beste hält, die es je in Deutschland gegeben hat, Demokratie ablehnt und das Recht auf freie Meinungsäußerung instrumentell auffasst, um Propaganda zu verbreiten, hindert nicht, sein „politisches Engagement“ wie das der anderen Jugendlichen zu werten. Vielleicht soll diesem Interview einer Extremismus-Theorie folgend der Stellenwert zukommen, „rechtsextremes“ Engagement zu repräsentieren, gegenüber den „linksextremen“ Positionen einer Attac- bzw. einer Greenpeace-Aktivistin? In jedem Fall wird nicht thematisiert, was rechtsextremes Engagement auf grundsätzliche Weise charakterisiert und unterscheidet .

Der Verzicht auf Thematisierung und Problematisierung hat zur Folge, dass rechtsextreme Äußerungen als unspezifisch erscheinen. In einer missverständlichen Pluralität „politischer Einstellungen“ geht es dann scheinbar nur darum, dass Jugendliche überhaupt eine „Überzeugung“ haben, als wäre das bereits eine demokratische Errungenschaft. Insofern erscheint die kommentarlose und unkritische Wiedergabe der Äußerung von Robert R., „Wenn man eine Überzeugung hat, ist das die Hauptsache“, als programmatisch.

Der Verzicht auf die Interpretation eines Einzelfalls beinhaltet mit der Entscheidung über die Vorgehensweisen empirischer Forschung auch, ob überhaupt und inwiefern gesellschaftliche und politische Dimensionen und Zusammenhänge erkennbar werden. Gerade Einzelfallanalysen und ein kritischer Subjektbegriff können soziale Prozesse und allgemeine Strukturen von Handlung und Interaktionen erschließen. An einigen Aspekten der Untersuchungen der Kritischen Theorie und an Beispielen neuerer Forschung möchte ich dies zeigen, nach einer kurzen Darstellung einiger Grundüberlegungen Kritischer Theorie zu Vorurteilsstrukturen.

 

3. Vorurteilsstrukturen in der Kritischen Theorie

 

Warum handeln Menschen gegen ihre eigenen Interessen, warum unterwerfen sie sich selbst und andere repressiver Vergesellschaftung, die ihnen ihre Freiheit und ihre Möglichkeiten des Glücksempfindens nimmt? Die vielfältigen persönlichen, ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Unterdrückungszusammenhänge, denen die Subjekte unterliegen, sind komplex und teilweise schwierig zu erkennen.

In der Perspektive der Kritischen Theorie sind die Subjekte sich selbst entfremdet, ihre Wahrnehmung und Selbsterkenntnis wird durch Fremdbestimmung dominiert. Im Antisemitismus äußert sich die fatale Illusion, Macht zu besitzen, scheinbar die Ursachen ihrer Unterdrückung zu erkennen, deren Urheber personifizieren und ausschalten zu können. Indem Subjekte antisemitische Vorurteile reproduzieren, sich von Juden verfolgt wähnen, als einem Gegner, den sie „durchschauen“ können, eröffnet sich ihnen darüber ein Code, mit dem sich die Welt erklären lässt. Im Besitz dieses untergründigen und hintergründigen „Wissens“, wähnen sie sich gleichzeitig als Teilhaber an einer machtvollen Gemeinschaft der Antisemiten. Abhängig davon, wie in politischen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen Antisemitismus funktionalisiert wird, kann die antisemitische Haltung auch zu realem Machtgewinn führen. Der eigentliche Unterdrückungszusammenhang gesellschaftlicher Herrschafts- und Ausgrenzungspraktiken wird dabei weiter verdeckt, die ihrer Individualität und Subjektivität beraubten Subjekte werden gerade an die Strukturen gebunden, die sie fortwährend demütigen, sie ihrer Lebensmöglichkeiten und Glücksempfindungen berauben. Die gesellschaftlich Ohnmächtigen werden als Konsumenten einer Kulturindustrie eingebunden, in ihrer narzisstischen Bedürftigkeit ausgebeutet und manipuliert; in der affirmativen Formulierung „es denken doch alle so“ privatisiert sich das öffentliche Bewusstsein in eine „Alltagsreligion“, die „aus Meinungen ein gegen Aufklärung resistent gewordenes System macht“, das sich gegen den kritischen Gedanken sperrt (Claussen 1995, 22).

Die Beraubung von Lebensmöglichkeiten, als eine „strukturelle Verhärtung des Subjekts“ (Adorno und Horkheimer 1975 (1952)), ist bereits im Wesen der bürgerlichen Ordnung begründet, ebenso wie die Disposition zu Autoritarismus und Antisemitismus. Dazu kommt, wie Rensmann (2001, 12) ausführt, dass die „fortschreitenden sozialen Bedingungen von Isolation, Unterwerfung, Anpassungsdruck und Entsagung“ in einer zunehmenden Schwächung von unabhängigem Bewusstsein und Gewissen münden. Nicht nur bei Faschisten und Antisemiten, sondern bei allen Gesellschaftsmitgliedern dominierten autoritär-aggressive Charakterdispositionen und stereopathische Mentalitäten, da sie als entscheidungsfähige Individuen geschwächt seien. In der Form von „Lebensneid“ (Löwenthal 1982) gegen die wirklich oder vermeintlich Genussfähigen verdichteten sich autoritäre Persönlichkeitsstrukturen in einer antisemitischer Paranoia, „die die aggressiv entstellten Bedürfnisse wie auch die sozialen Ängste und Ohnmachtserfahrungen der Menschen aufgreife: Judenphobie verspreche ein ‚erlaubtes’ Schwelgen in verleugneten Bemächtigungs-, Bestrafungs- und Zerstörungsgelüsten gegenüber denjenigen, denen lustvolles Dasein nicht verwehrt scheint“ (Rensmann 2001, 12).

 

Die zentrale These betrifft dabei die Entstehung der strukturellen Disposition zu Autoritarismus und zu Antisemitismus aus dem gesellschaftlichen „’Fortschritt barbarischer Beziehungslosigkeit’“ (Rensmann 2001, 11), also direkt aus der Dialektik der Vergesellschaftung, das heißt, der fortschreitenden Beherrschung und erbrachten Anpassung heraus. Antisemitismus entsteht also nicht als Nebenprodukt der Moderne, er entwickelt sich mit dem Autoritarismus, der die Moderne charakterisiert.

Als psychosoziale Disposition dient der Antisemitismus als „personifizierende Erklärung der undurchschauten kapitalistischen Moderne“; zugleich „repräsentieren Juden auch die universalistischen Ideen von Freiheit, Gleichheit und Emanzipation, die die bürgerliche Gesellschaft versprochen, jedoch nicht verwirklicht hat“ und verweisen „auf die verdrängten und entstellten Spuren der Erinnerung, an das von der Herrschaft Versäumte, an Glück ohne Macht, Wohlstand ohne Arbeit, Heimat ohne Grenzstein“ wie es Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ schreiben.

 

Dieser Erklärungsansatz der Kritischen Theorie beinhaltet den ausdrücklichen Verzicht darauf, den NS-Antisemitismus aus einer deutschen Besonderheit heraus zu erklären. Als Ursachen galten Horkheimer und Adorno die allgemeine Entwicklung der Moderne, deren Repressivität und ideologische Manipulation, wie sie es zuvor in den „Studien über Autorität und Familie“(1936) dargelegt hatten. Angesichts des Ausmaßes der Verfolgung der Juden in Deutschland kamen Adorno und Horkheimer zu dem Schluss, dass Antisemitismus das zentrale Phänomen sei, um totalitäre staatliche Machtkonzentration und Gesellschaft überhaupt zu verstehen. In den „Philosophischen Fragmente“, der „Dialektik der Aufklärung“, fassten sie abschließend ihre Erkenntnisse zu den „Elementen des Antisemitismus“ als „Grenzen der Aufklärung“ in sechs Thesen zusammen; bei der Veröffentlichung im Jahre 1947 kam eine siebte These hinzu.

 

Nach der Rückkehr in die Bundesrepublik analysierten Adorno und Horkheimer einen „sekundären Antisemitismus“. Der beinhaltet die Elemente des modernen Antisemitismus, nimmt sie jedoch in einer spezifisch ‚deutschen’ Form auf: „hervorgegangen aus dem deutschen Vernichtungsantisemitismus, verknüpft mit der deutschen Vergesellschaftung nach Auschwitz“. Die ‚sekundäre’ Form besteht in den sozialpsychologischen Dispositionen der „Erinnerungsabwehr“ (Horkheimer/Adorno 1985 (1959)) gegenüber dem Holocaust: „Demnach kann die aggressive Psychodynamik einer Verweigerung, sich mit Auschwitz und deutscher Täterschaft zu konfrontieren, in Ressentiments gegenüber Juden umschlagen, die die Erinnerung an den Völkermord repräsentieren“ (Rensmann 2001, 16) .

Ich beschränke mich hier auf diese kurze Darstellung ohne weitere Vertiefung, zur Kontextualisierung der empirischen Forschung der Kritischen Theorie, die ich im Folgenden beschreiben möchte.

 

4. Die empirische Erforschung antisemitischer und antidemokratischer Ideologie-Empfänglichkeit

 

Die Arbeit am großen Forschungsprojekt zur Vorurteilsbereitschaft von Angehörigen der US-amerikanischen Mittelschicht wurde 1943 aufgenommen. In der detaillierten Rekonstruktion von Rolf Wiggershaus (1988, 390 ff.) wird deutlich, inwiefern es gerade die bestimmten Bedingungen des US-amerikanischen Exils waren, in denen es überhaupt zu einer empirischen Forschung kam. Als Wegbereiter der Förderung eines Forschungsvorhabens zum Verhältnis von Demokratie, Rassismus und Antisemitismus sieht Wiggershaus die Untersuchung von Gunnar Myrdal, dem 1937 von der Carnegie Corporation großzügige Forschungsmittel gegeben wurden, um das sogenannte „Negro Problem“ zu untersuchen, als ein „American Dilemma“, das Demokratie und Freiheit einschränkte. Zeitgeschichtlich kam hinzu, dass nach den Pogromen der „Reichskristallnacht“ im Jahre 1938 die Flucht deutscher Juden einsetzte, ihnen aber bis auf eine kleine Zahl wegen der restriktiven Visa-Bestimmungen die Einreise in die USA verwehrt blieb. Diese Bestimmungen wurden von Regierungsseite paradoxerweise mit Befürchtungen begründet, dass der schon spürbare Antisemitismus in den USA durch eine große Anzahl jüdischer Flüchtlinge sich noch steigern und dies wiederum ungünstige Auswirkungen auf die Kriegsbemühungen der Alliierten haben würde.

 

In dieser Situation bemühte sich vor allem der ebenfalls aus Frankfurt/M – über London – emigrierte Sozialökonom Franz Neumann, Autor von „Behemoth: The Structure and Practice of National Socialism“ (1942) für das Institute for Social Research mehrere Jahre lang nachdrücklich um eine Förderung des Antisemitismus-Forschungsprojekts. Er erkannte schon früh, „that anti-Semitism will become much more powerful than ever before because it will be fused with a definitely Fascist movement“ (Neumann an Horkheimer, 20.12.41, zitiert nach Wiggershaus 1988, 393/4). Im März 1943 wurde schließlich eine Mitfinanzierung durch das American Jewish Committee zugesagt. Ein Hauptteil der Forschung, zum „totalitarian type and its political functions“, wurde in New York unter Leitung von Friedrich Pollock durchgeführt, unter Mitarbeit von u.a. Leo Löwenthal; der andere Hauptteil, „psychological research“, in Kalifornien unter Leitung von Max Horkheimer und der Mitarbeit von u.a. Theodor W. Adorno. Beider gemeinsame Theorie-Arbeit an den „Philosophischen Fragmenten“, der späteren „Dialektik der Aufklärung“, war nun mit dem empirischen Antisemitismus-Forschungsprojekt verschränkt.

Zuvor war Horkheimer lange skeptisch und zurückhaltend gegenüber Neumanns Bemühungen gewesen. Er zweifelte an der Förderungsbereitschaft des AJC und war auch ambivalent gegenüber dem Forschungsthema, wie Wiggershaus darlegt: „Das Selbstbild einer in splendid isolation lebenden Gruppe von Theoretikern, von Fremden über den Kulturen, die ihre Verbindung zum Judentum lediglich in der Verwandtschaft gewisser Denkmotive sahen, würde bei einer eingehenden Beschäftigung mit Antisemitismus und Judentum schwerlich aufrechtzuerhalten sein. Es würde einem nüchternen weichen müssen: dem Eingeständnis der Zugehörigkeit zur jüdischen Minorität, der ihre jüdischen Identitäten ungeachtet interner Differenzen und ohne Rücksicht auf die unterschiedlichen Grade der Assimilationsbereitschaft von außen aufgezwungen wurde. So war es vielleicht das schließliche Zustandekommen des Forschungs-Auftrags des AJC, was bewirkte, dass der Antisemitismus wirklich zum ausdrücklichen Forschungsgegenstand wurde“ (Wiggershaus 1988, 397).

 

 

Eine skeptische Haltung nahmen Horkheimer und Adorno auch gegenüber psychologischen Erklärungsansätzen und Forschungsmethoden ein, wie es in einem Brief von Horkheimer an Herbert Marcuse vom 17.7.1943 deutlich wird: „The tendencies in people which make them susceptible to propaganda for terror are themselves the result of terror, physical and spiritual, actual and potential oppression. If we could succeed in describing the patterns, according to which domination operates even in the remotest domains of the mind, we would have done a worth while job. But to achieve this one must study a great deal of the silly psychological literature and if you could see my notes, even those which I have sent to Pollock on the progress of our studies here you would probably think I have gone crazy myself. But I can assure you that I am not losing my mind over all these psychological and anthropological hypotheses which must be examined if one wants to arrive at a theory on the level of present-day knowledge” (Horkheimer GS Bd. 17, 464).

Im weiteren Verlauf des Forschungsprojekts unter dem Titel einer „Psychologie des Antisemitismus“ knüpfte Horkheimer dann aber an eine Fragebogen-Untersuchung von Studentinnen an der Universität Berkeley, in Verbindung mit dem projektiven Thematic-Apperception-Test große Hoffnungen, um den wissenschaftlichen Beweis zu liefern, dass Antisemitismus ein Symptom tiefer Feindseligkeit gegenüber der Demokratie sei, um dadurch vor allem Pädagogen und Lehrer aufzurütteln (Horkheimer an Pollock, 25.3.1944, nach Wiggershaus 1988, 402/3).

 

Von der Berkeley-Untersuchung, die 1950 unter dem Titel “The Authoritarian Personality“ veröffentlicht wurde, sind bis heute nur die Beiträge von Adorno auf Deutsch veröffentlicht worden, als „Studien zum autoritären Charakter“ (Adorno 1973; im folgenden zitiert nach 1995). Die Beiträge der anderen Forscher, der aus Wien emigrierten Psychoanalytikerin Else Frenkel-Brunswik, den psychoanalytisch orientierten Sozialpsychologen Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford und weiterer Mitarbeiter sind aber für einen Gesamteindruck dieses Projekts, das von Adorno ausdrücklich als Gruppenforschungsprojekt erlebt und verstanden wurde, sehr wichtig, weil sie den Gang und die Entwicklung der Untersuchung deutlich machen – dies auch gerade deshalb, weil das Gesamtmanuskript wegen Adornos Abreise nach Frankfurt/M nicht mehr redigiert wurde. So zeigen sich sowohl die Stärken als auch die Schwächen dieses Unternehmens, dessen Aufgabe darin bestand, die potentielle Empfänglichkeit für faschistische, antisemitische und allgemein anti-demokratische Meinungen bei Angehörigen der weißen Mittelschicht herauszufinden, die in den USA geboren (und nicht-jüdisch) waren. Die individuelle Charakterstruktur oder personality wird dabei keineswegs als etwas Gegebenes, Fixiertes verstanden, sondern entwickelt sich vielmehr „unter dem Druck der Umweltbedingungen und kann niemals vom gesellschaftlichen Ganzen isoliert werden“, wie es in der Einleitung heißt (1995, 7). Angehörige verschiedener Ausbildungs- und Berufsgruppen wurden mit Fragebögen befragt, anschließend wurden diejenigen interviewt, die sich durch ausgeprägte oder auch (relativ) abwesende antisemitische Vorstellungen charakterisierten. An Freuds Psychoanalyse orientierte Kategorien der Persönlichkeitsentwicklung dienten als Interpretationsfolie für die Interviews, um eine Theorie der Vorurteilshaftigkeit und der Autoritätsgebundenheit auszuarbeiten. Im Verlauf des Forschungsprojekts verschob sich der spezifische Schwerpunkt antisemitischer Vorurteile, wie Adorno erklärt: „Das führte schließlich dazu, dass wir unsere Hauptaufgabe nicht darin sahen, den Antisemitismus als sozialpsychologisches Phänomen per se zu analysieren, sondern vielmehr darin, die Beziehungen minoritätenfeindlicher Vorurteile zu umfassenderen ideologischen und charakterologischen Konfigurationen zu untersuchen“ (1995, 108).

 

Explizit wird diese Neufokussierung der Fragestellung in der Analyse zweier Einzelfälle durch R. Nevitt Sanford ausgearbeitet. „Mack“ und „Larry“, zwei College-Studenten, die zunächst einige Ähnlichkeiten aufweisen, in ihrem Wahlverhalten (Republikaner) und in bestimmten politischen und gesellschaftlichen Einschätzungen (sie sind gegen das „New Deal“), unterscheiden sich dann aber darin, dass Mack Vorurteile gegen Juden sowie gegen andere Bevölkerungsgruppen äußert, Larry sich jedoch ausdrücklich gegen jede Form der Diskriminierung ausspricht und sich das auch darin zeigt, wie er über Angehörige von Minderheiten redet. Sanford arbeitet heraus, dass Macks politische Einstellungen im Unterschied zu denen Larrys zwar konservativ erscheinen, genaugenommen aber pseudo-konservativ sind. Sein Eintreten für einen rugged individualism, „which apparently expresses the liberal concept of free competition among independent and daring entrepreneurs, actually refers more often to the uncontrolled and arbitrary politics of the strongest powers in business – those huge combines which as a matter of historical necessity have lowered the number of independent entrepreneurs” (1950, 50). Im Pseudo-Konservatismus, wie er sich bei Mack zeige, gebe es eine grundlegende Bereitschaft, einen totalitären politischen Umsturz zu befürworten.

Der Befund, dass Mack über die Juden ganz ähnlich wie über andere Minoritäten und politische Gruppen spricht, denen er ablehnend bis feindselig gegenübersteht, führt Sanford zu dem Schluss, „that we are faced here not with a particular set of political convictions and a particular set of opinions about a specific ethnic group but with a way of thinking about groups and group relations generally” (1950, 51).

Um solche tiefliegenden antidemokratischen Einstellungen analysieren zu können, wurde nach den Diagnose-Kriterien der Antisemitismus (A-S) und Ethnozentrismus (E)-Skalen anschließend eine Skala zum Politisch-Ökonomischen Konservatismus (PEC) entwickelt. Dies bildete insgesamt die Grundlage für das Analyse-Instrument der Faschismus (F)-Skala, zur Messung impliziter antidemokratischer Züge. Die F-Skala wurde nach Adornos Rückkehr nach Frankfurt/M weiterentwickelt, als eine der ersten empirischen Forschungen am neugegründeten Institut für Sozialforschung unter Horkheimers Leitung (hierzu ausführlich Demirovic 1999, Kap. 3 und 4).

Die Entwicklung der Skalen wurde nach meinem Eindruck überhaupt erst aus den beiden Einzelfall-Studien zu Mack und Larry möglich. Dies wird aus den einzelnen Beiträgen der „Authoritarian Personality“ deutlich, die gleichzeitig auch ein Dokument der Zusammenarbeit und der gemeinsamen Diskussionen in der Forschergruppe sind. Beispielsweise wurde eine verkürzte Form der Antisemitismus-Skala auch darüber validiert, dass sie den beiden College-Studenten vorgelegen hatte, und im Verhältnis zu deren Fallstudien interpretiert wurde (Sanford 1950, 89-92). Dass Fallstudien die interpretative Grundlage der Umfrage-Entwicklung bildeten, wird allerdings aus den auf deutsch veröffentlichten Auszügen der „Studien zum autoritären Charakter“ nicht ersichtlich. Es fehlen nicht nur die entsprechenden Beiträge Sanfords, sondern auch die Beispiele, die sich auf die Fallstudien beziehen (vgl. Anm. 21 zur Schlussbemerkung, 1995, 101 ). Vielleicht geht es zu weit zu sagen, dass diese „Ausssparung“ die Rezeptionsgeschichte der „Authoritarian Personality“ in Deutschland prägte. Auf jeden Fall erschließt sich durch die Berücksichtigung der zentralen Rolle der beiden Fallstudien aber eine Perspektive, die der gemeinsamen Zusammenarbeit in der Forschergruppe und ihrer interpretativen Forschungspraxis die Bedeutung gibt, die ihr zukommt. Der Eindruck eines „einsamen Theoretikers“, der viele der nachfolgenden Generationen von Studierenden davon abgehalten haben kann, Arbeiten von Adorno zu lesen, könnte auch dadurch verändert werden, dass gerade auf seine Forschungspraxis aufmerksam gemacht würde.

Die empirische Forschung, auf die sich Horkheimer und Adorno zunächst als Kompromiss eingelassen hatten, um ihre Arbeit an den „Philosophischen Fragmenten“ fortführen zu können, entwickelte eine eigene schöpferische Dynamik. Adorno äußerte sich viele Jahre später positiv über die damalige Zusammenarbeit in Forschungsprojekten, die gerade im amerikanischen Exil möglich war: „The spirit of enlightenment also in relation to cultural problems, in the American intellectual climate a matter of course, had the greatest attraction for me”.

 

Auf der einen Seite haben die Arbeiten der kritischen Theoretiker im amerikanischen Exil eine nachhaltige Wirkung auf die US-amerikanische Sozialforschung, Sozialtheorie und Kulturanalyse ausgeübt, auf der anderen Seite beeinflussten die damaligen Forschungssituationen und – kooperationen auch die spätere Arbeit von Adorno und Horkheimer: „Confronting and analyzing racial prejudice, especially anti-Semitism, remained a crucial task for Adorno after he returned home. When he addressed this question in Germany, he frequently drew on the authoritarian personality project as a model of theory-oriented empirical research coming out of a specifically American cultural and intellectual climate” (Hohendahl 1995, 42). Peter Uwe Hohendahl zitiert dazu weiter aus Adornos Aufsatz: “This kind of cooperation in a democratic spirit that does not get bogged down in formal political procedures and extends into all details of planning and execution, I found to be not only extremely enjoyable but also the most fruitful thing that I became acquainted with in America, in contrast to the academic tradition in Europe” . Diese Haltung Adornos entwickelte sich erst in den 1950er und 1960er Jahren, nach seiner Rückkehr, und teilweise gerade kontrastiv dazu, wie er trotz der positiven Forschungserfahrung in den USA seine Zeit dort erlebt hatte.

Hier bleibt festzuhalten, dass der Forschungs- und Interpretationsprozess der Exilzeit, gerade auch durch die Zusammenarbeit mit gesellschaftskritischen Psychoanalytikern, für die Entwicklung der Kritischen Theorie eine bedeutende Rolle spielte. Für die Rückkehrer nach Frankfurt/M kam trotz ihrer Bemühungen um empirische und interdisziplinäre Forschung ein solcher langfristiger Arbeitszusammenhang am neu gegründeten Institut für Sozialforschung nicht mehr zustande. Dies könnte auch damit zusammenhängen, dass bereits am „Gruppenexperiment“, der ersten, weit beachteten sozialpsychologisch-empirischen Forschung zu Autoritarismus, Antisemitismus und anti-demokratischen Einstellungen, keine Psychoanalytiker beteiligt waren (für die detaillierte Schilderung der Forschungssituation am IfS Anfang der 50er Jahre, vgl. Demirovic 1999, 339ff). Der Beitrag einer gesellschaftskritischen Psychoanalyse wurde später institutionell „ausgelagert“, durch die Gründung des universitären „Instituts für Psychoanalyse“ unter Leitung von Alexander Mitscherlich. Es gab aber weiterhin gemeinsame Arbeitszusammenhänge, in denen kritische Theorie weiter entwickelt wurde; Jürgen Habermas bezieht sich darauf in „Erkenntnis und Interesse“ (1968). Auch gegenwärtig werden psychoanalytische und soziologische Perspektiven auf offene Weise zu Fallinterpretationen und thematischen Diskussionen eingebracht und weiter entwickelt .

 

Im folgenden möchte ich – wenn auch nur kurz – auf ein weiteres Teilprojekt zu den destruktiven Tendenzen in der zivilisierten Gesellschaft eingehen, und zwar auf Adornos brillante und exemplarische Analysen von Redeauftritten und Radiosendungen antisemitischer Agitatoren. Die Analysen wurden mit den emigrierten Psychoanalytikern Ernst Simmel, Otto Fenichel und Geza Róheim diskutiert und 1946 veröffentlicht, in dem von Ernst Simmel herausgegebenen Band „Anti-Semitism. A Social Disease“ (1993 auf deutsch erschienen).

 

5. Zur Aktualität der Rhetorik- und Argumentationsanalysen Adornos

 

Adornos kurzer Aufsatz „Antisemitismus und faschistische Propaganda“ (dt. zuerst 1993, hier zitiert nach 2002), geht auf seinen Beitrag auf dem Symposion zurück, das 1944 in San Francisco unter der Leitung des aus Wien geflüchteten Psychoanalytikers Ernst Simmel veranstaltet wurde. Adorno bezieht sich sowohl auf die gemeinsame Arbeit mit Max Horkheimer an den „Philosophischen Fragmenten“ als auch auf seine eigene damals laufende Forschung zur „Authoritarian Personality“ im Rahmen des ISR (Institute for Social Research) Forschungsprojekts „Studies in Prejudice“. In einer ausführlichen Arbeit hatte Adorno dafür die Rundfunkreden eines Agitators aus dem Jahre 1935 analysiert . Darauf sowie auf weiteren Analysen basierte sein Vortrag in San Francisco, in dem er auf die psychologische Technik eingeht, die antidemokratische und antisemitische Reden charakterisiert. Das von ihm untersuchte Material ziele darauf ab, Menschen „gefangen zu nehmen, indem es auf ihren unbewussten Mechanismen spielt“ (2002, 148; kursiv i. O.). Die psychologische Analyse der Reden basiert auf einer sehr genauen Beobachtung der wirkungsvollen rhetorischen Phänomene. So spricht Adorno von einer „redundanten Beschreibung“ (150) der politischen Zielvorstellungen in der Rede, die aber für sich genommen, als Ziele verschwommen bleiben. Durch die Redundanz der Andeutungen, also das Anhäufen vager Begriffe und wiederholtes Appellieren an diese „Ziele“ wird der Eindruck erzeugt, als würden die Sprechhandlungen bereits die Realisierung der Zielvorstellungen beinhalten. Insofern fungiert die Propaganda als „eine Art Wunscherfüllung“ (150).

 

Als weiteren Mechanismus zeigt Adorno auf, dass die „Lust am Schnüffeln“ „angefacht und befriedigt“ wird (150). Die von ihm analysierten Radio-Propagandisten entrüsten sich dabei vor allem über angebliche sexuelle und grausame Exzesse ihrer imaginären Gegner. (Entsprechend funktionieren auch andere, aktuelle Skandalisierungen, beispielsweise von Drogen, Prostitution und Kriminalität in Verbindung mit „Ausländern“.)

Im Unterschied zu Deutschland in den 30er und 40er Jahren konnten sich Agitatoren in den USA nicht offen zu antidemokratischen Zielen bekennen. Insofern ergibt sich eine Vergleichbarkeit zu populistischer und rechtsextremer Rhetorik, in der gegenwärtig ebenfalls ominöse Andeutungen und vage Umschreibungen im Unterschied zu expliziter Agitation vorherrschen. Gleichzeitig sind erstere aber auch charakteristisch für die agitatorische Rede, da nach wie vor gilt, wie Adorno schreibt, dass „jedes klar umrissene Programm nur eine Einschränkung“ für die agitatorische „Dynamik“ darstellen würde: ,„Der totalitären Herrschaft ist es wesentlich, dass es keinerlei Garantien gibt, dass der skrupellosen Willkür keine Grenze gesetzt wird“ (151). Auf die Gegenwart bezogen würde ich dies so formulieren, dass die explizite oder implizite Bezugnahme rechtsextremer oder populistischer Politiker auf die historisch geschehene grenzen- und skrupellose Willkür ihnen einen Machtzuwachs verschafft. Implizit kann dies beispielsweise über das Hervorheben scheinbar positiver Aspekte der NS-Herrschaft gehen, wenn suggeriert wird, „damals“ habe es eine gemeinschaftliche Anstrengung gegeben, weniger Kriminalität, eine „bessere Arbeitsmarktpolitik“; gleichzeitig legitimiert dies zumindest im Rückblick totalitäre Herrschaft.

Weiterhin sind Überlegungen interessant, wie in Politik und Medienöffentlichkeit ganz allgemein mit rhetorischen Mitteln an der Erzeugung einer „Dynamik“ gearbeitet wird; inwiefern „Dynamik“ grundsätzlich zu politischer Rede und öffentlicher Darstellung gehört und ob besondere Formen der Erzeugung von Dynamik eher zu einer demokratischen Öffentlichkeit beitragen als andere.

 

Adorno geht in der Folge auf mehrere Aspekte faschistischer Propaganda ein, die gerade unter dem Gesichtspunkt beeindrucken, dass deren konstruktionistischer Charakter und damit deren Modernität herausgearbeitet wird. Im Gegensatz zu der damaligen Massenpsychologie hebt er die Elemente bewusster Manipulation hervor: „Zynische Nüchternheit ist für die faschistische Mentalität wahrscheinlich eher charakteristisch als psychologische Berauschung“. Das Ich spiele in der faschistischen Irrationalität eine viel zu große Rolle, als dass eine Interpretation angeblicher Ekstase „als einer bloßen Manifestation des Unbewussten zulässig wäre“, denn: „An der faschistischen Hysterie ist immer etwas Stilisiertes, Arrangiertes, Unechtes“, auf das sich die kritische Aufmerksamkeit richten solle (152).

Diese Sichtweise eröffnet Fragestellungen danach, wie an dem Zustand „gearbeitet“ und das produziert wird, was als eine „natürliche“ massenhafte Begeisterung und Erregung gelten soll. Dies ist exemplarisch für eine theoretisch-empirische Vorgehensweise der Untersuchung, in der Phänomene als in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext konstituierte analysiert werden. Hier deutet sich eine zunächst unerwartete Übereinstimmung mit phänomenologischen und pragmatistischen Forschungstraditionen an. Substantiieren lässt sich diese Konvergenz durch die Vorgehensweise Adornos, wenn er ein Phänomen sozusagen strukturell beschreibt, das heißt, es im Hinblick auf dessen Mechanismen und Prozesse untersucht. Nach diesen kurzen Bemerkungen zur Aktualität der Analysen möchte ich im folgenden näher betrachten, wie Adorno dabei vorgegangen ist.

 

6.“Anschmiegen“ an den Gegenstand

 

In der qualitativ-interpretativen Sozialforschung gibt es unterschiedliche Fragestellungen und Vorgehensweisen der Untersuchung. Durch Vertreter verschiedener „Schulen“ werden insbesondere Unterscheidungen akzentuiert. Ich finde es gerade interessant, mögliche Parallelen und Konvergenzen zu betrachten . Für die Fallinterpretation möchte ich mich hier auf die Vorgehensweise von Adorno beziehen, die von Ulrich Oevermann als ein „Anschmiegen“ an den Gegenstand bezeichnet wurde.

Zur Begründung einer materialen soziologischen Strukturanalyse argumentiert Oevermann, indem er auf Adornos methodologisches Selbstverständnis rekurriert, „worunter vor allem zu verstehen wäre, dass Theorieentwicklung und Erkenntnisfortschritt in der Soziologie nur über konkrete Analysen zu sichern sind, die die Sache selbst zum Sprechen bringen, indem sie sich an sie anschmiegen und durch dieses unvoreingenommene, radikale Sicheinlassen auf die jeweilige Besonderheit des Gegenstandes hindurch zum zugleich klärenden wie kritisch überwindenden, allgemeinen Begreifen der gesellschaftlichen Wirklichkeit gelangen“ (1983, 234). Dieses Programm einer dialektischen Sozialforschung habe Adorno aber nur in der Musiksoziologie exemplarisch durchgeführt, dessen methodologische Begründungen zudem nicht systematisch ausgearbeitet.

Letzteres ist sicherlich der Fall. Es finden sich aber eine Reihe von Beobachtungen in Adornos Arbeiten, an denen sich seine Praxis der Dechiffrierung, die er in der Musiksoziologie entwickelt hat, nachvollziehen lässt – und zwar auch in seiner Analyse faschistischer Propagandaredner. In einer Anmerkung, in der er sich auf seine Buchrezensionen zu Jazz bezieht, kommt er, sozusagen über eine strukturelle Beschreibung eines „Jitterbug“-Tänzers, zur Entdeckung des Propaganda-Rituals:

„dass das Ich den Identifikationsmechanismus von sich aus andrehen und sich buchstäblich selber hypnotisieren muss, weil es anders nicht mehr bei der Stange bleibt. Daher der Gestus des jitterbugs, der sich benimmt, als mache er willentlich einen Idealtypus des jitterbugs nach“ (2002, 157, Anm. 6).

Die Propaganda-Muster entfalten sich dementsprechend „standardisiert“: „Der potentielle faschistische Gefolgsmann verlangt diese rigide Wiederholung, genau wie der Jitterbug das Standardmuster der populären Lieder fordert und in Rage gerät, wenn die Spielregeln nicht strikt eingehalten werden. Die mechanische Anwendung dieser Muster ist eines der Kernstücke des Rituals“ (157). Die „Stereotypie“ faschistischer Propaganda, die sich „auf etwa dreißig Formeln reduzieren“ lasse, erkläre sich teilweise durch den Rekurs auf gemeinsame Quellen wie Hitlers „Mein Kampf“ sowie auf einen gemeinsamen organisatorischen Zusammenhang der Agitatoren an der Westküste, aber eben vor allem über das Standardmuster des Rituals.

Diese Analyse beeindruckt mich durch ihre Genauigkeit und Aktualität. Der Bezug auf Originalquellen, die Auswirkung des organisatorischen Zusammenhangs sowie insbesondere das, was Adorno als die Kernelemente rhetorischer Agitation bezeichnet, in ihrer unmittelbaren Reflexivität, ihrer Wirkung auf die Überzeugung und auch weitere Involvierung des Sprechers und der Zuhörer, kennzeichnet auch vergleichbare Agitation und Mobilisierung in der Gegenwart. In meiner Untersuchung zum Rechtsextremismus Jugendlicher habe ich herausgefunden, dass sie im Prozess ihres Mitgliedwerdens und der Intensivierung ihrer Gruppenzugehörigkeit sich selbst und sich gegenseitig immer weiter in ihre Überzeugungen „hineinreden“ . Dabei beziehen sie sich auf NS-Originalquellen, auf relativierende und legitimierende Darstellungen der NS-Zeit und des Krieges und auf die Leugnung des Holocaust. Insbesondere der Leugnung des Holocaust – bei gleichzeitiger Andeutung einiger Anführer, wozu man imstande sei – kommt für eine antisemitische Welterklärung die konditionelle Relevanz zu, die Eröffnung der Handlungsmöglichkeit, alles behaupten und damit auch scheinbar sich selber machtvoll über andere erheben zu können.

Für die Vorgehensweise der Untersuchung, die auf offenen Einzel- und Gruppeninterviews und ethnographischen Beobachtungen beruht, haben mich unterschiedliche Forschungstraditionen inspiriert: die durch Fritz Schütze entwickelte Biographieanalyse; ethnomethodologische Sichtweisen auf „Gruppenmitgliedschaft“ von Harvey Sacks, Harold Garfinkel, Edward Rose; die durch Anselm L. Strauss entwickelten Kategorien sozialer Weltbezüge; der symbolische Interaktionismus von Howard S. Becker. Nachträglich würde ich gerne Adornos Propaganda-Analysen hinzu nehmen, da sie so genau charakterisieren, was rechtsextreme Agitation ausmacht: so die Vergleichbarkeit von Propagierung mit „Reklame“ , wie ich sie insbesondere im Fall von „Armin“ fand, der für sich eine glänzende Zukunft als Propaganda-Redner in der Nachfolge von Goebbels voraussah und sich in eine illusionäre Führerrolle hinein steigerte, während er selbst durch einen Ex-Wehrmachtsoffizier rekrutiert wurde, der sich zur Aufrechterhaltung seiner eigenen Lebenslüge eines „positiven Nationalsozialismus“ aller Register der Propaganda-Rede bediente, um Jüngere an sich zu binden; sowie, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, die Analyse der Destruktivität des antisemitischem Verfolgungswahns, der als allgemeine Zerstörungswut auch auf den eigenen Untergang hinausläuft, wie es für einige der Jugendlichen der Fall war.

 

Wie kann aber Kritische Theorie in einem Atemzug mit den anderen Forschungstraditionen genannt werden?

 

Dagegen sind viele Einwände denkbar. So kann die Ethnomethodologie in ihrer gesellschaftstheoretischen Indifferenz als Gegensatz zur Kritischen Theorie gesehen werden (vgl. Ritsert 1983, 227/8).

Interessant ist aber, dass es auch Konvergenzen gibt; die ethnographisch genaue Beschreibung Adornos, die in der Entdeckung des imitatorischen Verhaltens als eines ritualisierten Musters gipfelt, entspricht auf frappierende Weise der wenige Jahre später veröffentlichten Analyse „Becoming a marihuana user“ von Howard S. Becker (1953). Becker stellt darin fest, dass es bestimmte Abläufe der Zugehörigkeit zur „Gruppe“ der Marihuana-Raucher gibt: durch ein Nachahmen der Handlungen bereits „Eingeweihter“ tun die Neulinge so, als gehörten sie bereits zu den gewohnheitsmäßigen Konsumenten; auf diese Weise können sie überhaupt erst erkennen, was den „Genuss“ („pleasure“) ausmacht, der dann zum Motiv und auch zur Begründung ihres weiteren Konsumierens wird. Sie drehen, in Adornos Worten, „den Identifikationsmechanismus von sich aus“ an. Howard Becker war der Einblick in diesen Mechanismus möglich, weil er sich berufsmäßig in der „Szene“ aufhielt und darin auskannte; als Jazzmusiker …

An der materialen Analyse des Identifikations-Mechanismus zeigt sich eine Konvergenz unterschiedlicher Forschungstraditionen, die sich zunächst mit dem immanenten Sinnverstehen erklären lässt, das sozusagen in der „Sache“ selbst begründet liegt, der man sich im Forschungsprozess aussetzt. Unterschiedliche Forschungstraditionen des Sinnverstehens wurden bereits bei Habermas (1988/1981) aufgezeigt. In neueren Auseinandersetzungen mit der Kritischen Theorie wird darauf hingewiesen, dass sich Erkenntnisinteresse situiert und reflexiv zum Forschungsgegenstand verhält und sich nicht darauf richten kann, alles umfassende Erklärungen zu finden .

Der Testfall kritischer Theoriebildung liegt, so würde ich argumentieren, insbesondere in Bezug auf Fremdenhass und Antisemitismus in der Forschungspraxis. In dieser erweist sich, inwiefern Vorurteilsstrukturen wissenschaftlich reproduziert oder aber aufgezeigt werden und ob Täterschaft funktionalistisch erklärt oder aber in der Rekonstruktion des Handlungsablaufs immer wieder problematisiert wird. Es zeigt sich schon darin, ob überhaupt rassistische und antisemitische Motive thematisiert werden und ein struktureller rechtsextremer Bezug auf die NS-Herrschaft wahrgenommen wird. Auch dann, wenn von einer ‚neuen Rechten’ ein solcher Bezug explizit in Abrede gestellt wird, bleiben diejenigen Elemente wirksam, die scheinbar modernisierungsfähig sind, in Wirklichkeit aber von genau der Eliten- und Massenbildung, eben dem Autoritarismus und der Irrationalität zehren und auch von der realen Destruktivität des NS-Regimes. Wenig thematisiert, vielmehr oft direkt bestritten wird auch die Bedeutung von Familienmilieus, in denen es auf direkte oder indirekte Weise zu legitimierenden Darstellungen der NS-Zeit kommen kann. Dabei geht es um materiale Erinnerungsspuren, die eine Auseinandersetzung erfordern, indem sich die am Nationalsozialismus Beteiligten und die nachfolgenden Generationen damit beschäftigen. Eine Vermeidung von Eingeständnis, Verzweiflung und Scham und deren reaktive Abwehr tauchen dann auch immer wieder in Politik, Medienöffentlichkeit und Gesellschaft auf .

 

7. Gesellschaftskritische Sozialforschung zu Reaktionen auf Einwanderung

 

Bereits in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden in der Berkeley-Studie Vorurteilsstrukturen so aufgefasst, dass sie mit einer Realität des Hassobjekts oder auch nur mit dessen realer Anwesenheit nichts zu tun hatten. Demgegenüber ist ambivalent, wie feindliche Reaktionen auf Einwanderung gegenwärtig untersucht werden: zumeist werden diese doch so aufgefasst, dass sie durch „Erfahrungen“ mit Einwanderern verursacht worden seien. So kommt es zur sozialwissenschaftlichen Reproduktion eines hegemonialen Fremdheitsdiskurses, in dem Einwanderung wie selbstverständlich als problematisch und konfliktverursachend gilt. Diesem Diskurs wird auch nicht widersprochen, wenn festgestellt wird, dass trotz der geringen Zahl von Ausländern in den neuen Bundesländern Umfragen immer wieder ergeben, dass zu viele da wären .

Hier möchte ich die Frage einer kritischen Theoriebildung zu Einwanderung darauf richten, wie Herkunft thematisiert wird. Ich habe den Eindruck, dass in der Forschungspraxis oftmals scheinbare Selbstverständlichkeiten reproduziert werden, wenn es um eine Herkunft geht, die Vorurteile hervorruft. Die Forschung richtet sich dann in vielen Fällen auf soziale Probleme und Konflikte, in die Angehörige dieser Gruppen involviert sind. Der Mechanismus ist bekannt: durch die Identifizierung mit Konflikten und Problemen verstärkt sich noch einmal das, was man wie selbstverständlich über diese Gruppen weiß. Wie kann die Reproduktion von Vorurteilen vermieden werden?

Dazu könnte eine Sozialforschung beitragen, in der die Prozesse der eigenen Auseinandersetzung mit Herkunft untersucht werden – und zwar für alle Gruppen, von Mehrheiten und Minderheiten in der Bevölkerung. Es würden dann nicht mehr nur, oder vor allem über Andere Aussagen getroffen und es könnten strukturelle Ähnlichkeiten der Prozesse der Auseinandersetzung mit Herkunft deutlich werden, sowie die spezifischen Besonderheiten der Auseinandersetzung Einzelner in ihrer jeweiligen Mehrheits- und Minderheitssituation, die auch deren Schichtzugehörigkeit und Geschlecht beinhaltet . Wenn es zu einer gesellschaftlichen Anerkennung von Differenz kommen soll und zu einer Universalisierung von Perspektivenübernahme und Reziprozität über partikulare Gruppen hinaus, so könnten Erkenntnisse solcher Forschung etwas dazu beitragen.

 

Abschließend möchte ich kurz auf die Überlegungen zur Analyse von Einzelfällen und zum Subjektbegriff zurück kommen. Zum Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft schreibt Adorno in Minima Moralia: „In der individualistischen Gesellschaft jedoch verwirklicht nicht nur das Allgemeine sich durchs Zusammenspiel der Einzelnen hindurch, sondern die Gesellschaft ist wesentlich Substanz des Individuums.

Darum vermag die gesellschaftliche Analyse aber auch der individuellen Erfahrung unvergleichlich viel mehr zu entnehmen, als Hegel konzedierte, während umgekehrt die großen historischen Kategorien nach all dem, was mittlerweile mit ihnen angestiftet ward, vorm Verdacht des Betrugs nicht mehr sicher sind“ (1951, 12).

Das Individuum, obschon durch Vergesellschaftung „ausgehöhlt“, habe an der Gewalt des Protests, an „Fülle, Differenziertheit, Kraft“ gewonnen: „Im Zeitalter des Zerfalls trägt das Individuum von sich und dem, was ihm widerfährt, nochmals zu einer Erkenntnis bei, die von ihm bloß verdeckt war, solange es als herrschende Kategorie ungebrochen positiv sich auslegte“ (12/13) .

In die Tradition ungebrochen positiver Auslegung gehört ein Bias soziologischer Theorie, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Individuen zu überschätzen und dagegen die Bedingtheit von Handeln und insbesondere Erleidensprozesse zu wenig zu beachten; dies gilt auch für interpretative Ansätze wie den Symbolischen Interaktionismus . In vielfacher Hinsicht können Individuen in der Autonomie ihrer Entscheidungen und in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt sein; Erleidensprozesse bilden daher einen wichtigen Teil gesellschaftlicher Erfahrung . Erst durch die Aufmerksamkeit für diese Beeinträchtigungen können gesellschaftliche Bedingungen und Entwicklungen, die Lebensmöglichkeiten behindern, erkannt werden: strukturelle Benachteiligung ebenso wie institutionelle Abläufe und kollektive Prozesse, die Leiden verursachen. Die Rekonstruktion von Einzelfällen in der offenen Interpretation einer - auch interdisziplinär - arbeitenden Forschungsgruppe richtet sich auf Handlungsmöglichkeiten, auf institutionelle Abläufe und Prozesse, die sich auch jenseits der bewussten Wahrnehmung der Akteure vollziehen, auf ambivalente Handlungssituationen und auf Paradoxien, die sich durch Handeln nicht auflösen lassen; auf das Wissen und die Emotionen, in den Begriffen von Anselm L. Strauss, die sich in den Anstrengungen, in der Arbeit und in der Kreativität von Individuen zeigen.

 

 

 

Für Gespräche und Hinweise danke ich Alex Demirovic, Carl H. Buchner, Fritz Schütze, Ursula Apitzsch, Martin Löw-Beer, Kathy Davis, Regina Kreide, René Gabriels, Felicia Herrschaft und den Studierenden meines Seminars zur Jugendsoziologie, die mit mir über die Shell-Studie diskutiert haben.

 

 

 

 

Kritische Theoriebildung zu Antisemitismus, Rassismus und Reaktionen auf Einwanderung, erschienen in: Alex Demirovic (Hrsg.) Modelle kritischer GesellschaftstheorieTraditionen und Perspektiven der Kritischen Theorie VI, 394 S., Kartoniert Preis: EUR 39,95 / CHF 64,00

ISBN: 3-476-01849-0 Erschienen am: 10.04.2003.

 

Bestellen: Verlag J.B. Metzler

 

Die Kritische Theorie hat in der von Max Horkheimer, Theodor W. Adorno u.a. in der Frankfurter Schule entwickelten Form seit den 1930er Jahren nachhaltig auf die intellektuellen Bewegungen der Nachkriegsgeschichte Einfluss genommen. Wie viel Kritische Theorie braucht die Gesellschaft von heute? Mit dieser Fragestellung werden "klassische" Themen der Kritischen Theorie in 20 Beiträgen noch einmal aufgerollt, etwa Rationalität und Technik, Herrschaft und Demokratie, verwaltete Welt, Sozialcharaktere, Kulturindustrie. Dabei wird der Versuch gemacht, die Begriffe und Argumente auch für die Beschreibung einer gewandelten und permanent sich wandelnden Gegenwart nutzbar zu machen.

 

 



Literatur

 

 

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Wagner, Ulrich, Oliver Christ, Steffen M. Kühnel (2002): Interkulturelle Kontakte. Die Ergebnisse lassen hoffen. In: Heitmeyer, Wilhelm (Hg.): Deutsche Zustände Folge 1

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Wiggershaus, Rolf (2001/1988): Die Frankfurter Schule. Geschichte – Theoretische Entwicklung – Politische Bedeutung

München und Wien, Carl Hanser Verlag