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Gespräch mit Harald SzeemannGespräch mit Harald Szeemann: 29. Februar 2004
Harald Szeemann, über das Einmanntheater, documenta 5 und folgende Projekte.
Transkript:
Felicia Herrschaft: Sie haben mit dem Einmanntheater angefangen zu arbeiten. Wie ist es vom Einmanntheater zur Agentur für geistige Gastarbeit gekommen und wie sind Sie dann Kurator geworden? An welchem Punkt befinden sie sich heute?
Harald Szeemann: Es war einfach so, sie sind abhängig, weil sie das Gymnasium machen und dann sind sie abhängig, weil sie Kunstgeschichte studieren und ich war einfach in der Beziehung Rebell.
Ja eigentlich schon immer, schon als kleines Kind habe ich selber Dramen geschrieben und mit meinem Bruder aufgeführt. Aber dann habe ich begonnen in Gruppen zu spielen. Ich habe dann den Mephisto gespielt, den Malwolio und da hat mich auch der Leonard Steckel gesehen. Irgendwie ist mir dieses Ensembletheater auf die Nerven gegangen und ich habe dann eigentlich um selber meine Grenzen kennen zu lernen gesagt, so jetzt mache ich ein Einmanntheater, fertig, Schluss. Ich mache jetzt die Bühnenbilder selber, ich schreibe die Texte selber, ich spiele selber und habe natürlich eigentlich gedacht, das mache ich eher für mich und in zwei Jahren, ich war damals zweiundzwanzigeinhalb, aber das war eine Sensation für viele, dass da jetzt da so ein Junger kommt. Es gab damals so ein Einmanntheater Mann, nämlich Arnold Kübler, der Chefredakteur des "Du", das war der alte Mann des Einmanntheaters. Der Weise, abgeklärte und der Junge also und ja zu meinem Erstaunen sollte ich dann auch in Zürich auftreten. In Bern habe ich gedacht. ja, zwei Jahre und hinterher war es dann auch über einen Monat und mehr Leute kamen. Ich bin dann nach Paris, weil ich im Sommer immer als Grafiker gearbeitet habe um mein Leben zu verdienen, mit zweitausend Franken konnte man damals sechs Monate in Paris leben und ich habe auch eine Dissertation gemacht, über die französische Buchillustration. So arbeitete ich an der Bibliothek National und habe dann eigentlich versucht ein zweites Perdun zu machen und war sehr inspiriert von dieser Vision einer neuen Stadt von Max Frisch und in dem Moment, als Leonhard Steckel den Malwolio gesehen hat und mich engagieren wollte, in diesem Moment kommt eine Anfrage aus St-Gallen, da war ein Fünfer Komitee und irgendwie ist halt das Thema das sie gewählt haben, Dichtende Maler, malende Dichter, das war ja natürlich uferlos und sie haben begonnen bei Michel Angelo und irgendwie suchten sie noch jemand der ihnen das zu Ende führt irgendwie, sie brauchten dann noch irgendeinen Schlusselan und ich hab ja sehr vergnügt diese ganzen surrealistischen Manifeste übersetzt, Duchamp und über das Cabaret Voltaire gearbeitet. Sie haben dann den Franz Meier gefragt, der war damals Dirketor der Kunsthalle Bern und der hat gesagt, ich kenne eigentlich nur einen der euch da helfen kann, aber ich weiss der arbeitet im Sommer immer als Grafiker in Paris. Und ich habe gedacht, ja, das interessiert mich, ich komme jetzt mal nach St-Gallen und dann habe ich eigentlich diese Ausstellung fertig gehängt, mitgeholfen beim Katalog und so weiter und so sagte ich mir, eigentlich habe ich jetzt mein Medium entdeckt: das ist ja eigentlich wie im Theater oder? Man arbeitet auf diese Premiere hin, stressiger und es wird immer intensiver und im Grunde genommen, bei einer Ausstellung ist es dasselbe, aber wenn sie mal eröffnet ist, dann steht so ein Stück irgendwo für einen, wo man weiss, das hat man gemacht. Ich habe dann im selben Jahr das was ich in St-Gallen verdient habe, gleich wieder rein gesteckt in eine Produktion, in eine Ehrung von Hugo Ball. Der war damals ziemlich vergessen, das war so noch Fünfziger Jahre nicht und ich habe natürlich da alles wieder verloren. Aber auch geguckt, dass ich alle Leute, die noch mit Hugo Ball gearbeitet haben, also Sigfried Streicher, der damals die Freie Zeitung noch redigiert hatte, die Stieftochter habe ich gesucht und die Tochter der Stieftochter, also die Tochter von Hennings, die Enkelin von Hennings hat dann die poetischen Texte gelesen, der Streicher die politischen, ich die Rahmenhandlung von Hermann Hesse und die dadaistischen Geschichten und der Fikar der Marienpfarrei hat dann die Konversionstexte gelesen … und dann habe ich eine Ausstellung gemacht mit allen Manuskripten die ich kriegen konnte - da hat mir sehr der Hans Pollinger geholfen. So war ich eigentlich mitten ganz jung so in einem ganzen Klima und ich meine auch wenn ich in Paris war, kannte ich den Tinguely, hab noch Francusi gekannt und war von 12 Uhr mittags bis Mitternacht immer in der Cinemathek. Daraus ist dann das Musee du Cinema entstanden am Trocadero de Cinematheque. Früher war das noch hinter dem Pantheon und so war ich eigentlich immer na ja sehr neugierig, oder? Auch in Bern muss ich sagen, Dieter Roth war damals noch da, bis fünfundfünfzig. Spoeri war da als erster Tänzer am Stadttheater dann waren diese jungen Maler da… und so weiter, so war ich eigentlich immer in diesem Klima drin. Und dann eines Tages kam Rüdlinger nach Paris. Also Rüdlinger war vorher auch schon in der Kunsthalle Bern Direktor gewesen und der hat dann gesagt: Franz Meier will jetzt weggehen und wär das nicht etwas für dich? Eigentlich fand ich diese Kunsthalle Bern immer am spannendsten in dieser kleinen Stadt und so habe ich mich beworben. Das einzige mal, das ich mich beworben habe. Zu meinem Erstaunen wurde ich dann gewählt. So war ich dann einfach der jüngste Museumsdirektor der Welt. Ich war eben irgendwie ungeheuer privilegiert und natürlich ist mit diesem Einmanntheater auch die Richtung angegeben. Ich habe dann natürlich versucht in der Kunsthalle nicht mehr wie man es vorher gemacht hat noch in Berlin einen Picasso der die Kunst der Schwarzen entdeckt und die Surrealisten, die Südsee auszustellen, ich habe dann die Geisteskranken gezeigt und die Motivbilder als Memoriam aller möglichen Unglücksfälle und so weiter. Bei diesen Stilrichtungen bin ich da darauf gekommen, das mich eigentlich eine lineare Kunstgeschichte überhaupt nicht interessiert, sondern, ich sprach dann immer von der Kunstgeschichte, der intensiven Intensitäten wo eben sehr oft nicht das Meisterwerk zählt. Das Museum Monte Verita ist ja das Beispiel dafür, vielleicht gibt es kein Meisterwerk, oder? Das Meisterwerk ist, dass alles mit allem zusammenhängt. Das ist eigentlich das Museum des Geistes, in dem Sinne. Na ja und so habe ich dann in der Kunsthalle Bern meine achteinhalb Jahre gemacht und bin natürlich auch immer radikaler geworden. Bis ich dann die erste Ausstellung machen konnte, die einen neuen Ausstellungstyp kreierte. In revolutionären Zeiten kann man die Dinge ästhetisch sehen und wenn sie intensiv sind, macht man ein Energiefeld damit und so ist dann diese Attitudes Ausstellung entstanden und der Titel ist ja dann uferlos weiter gelaufen, "when attitudes become form", in Minneapolis. In Genf gibt es eine junge Gruppe, die ihren Raum attitudes nennt und so weiter und in dieser ganzen Geschichte muss man sich mal vorstellen 1968 war eine Documenta und im März 1969 habe ich mit all diesen neuen Künstlern eine Ausstellung gemacht. Also hat die Documenta die verpasst. Ja und das war eigentlich auch der Grund weshalb man mich geholt hat. Und so wurde ich gewissermassen zum alleinigen künstlerischen Verantwortlichen. Ich nannte mich aber nicht künstlerischer Leiter, sondern Generalsekretär, ja, weil ich die kommunistische Partei brauchte und so weiter, vor allem wollte ich nach Osten öffnen. Es ist nicht gelungen, weil das damals diplomatisch noch nicht gelaufen ist; die Bundesrepublik hatte keine Beziehung zu China und auch mit den Russen, das hat nicht funktioniert, aber gut, deshalb habe ich mich Generalsekretär genannt. Im Grunde genommen war ja die Documenta immer - sie ist meistens so draus rausgelaufen - das es diese ewigen ungleichen Zwillinge gibt oder ungleiche Brüder wie Seligman das nannte, das war immer so. Minimal, Popart, abstrakter Expressionismus, nouvelle realite und bei mir hätte ich auch wieder in diese Falle gehen können, mit Fotorealismus und Konzeptkunst und irgendwie sagte ich mir, ich muss das sprengen. Von daher habe ich diesen Begriff, der sehr attackiert wurde, der individuellen Mythologie geprägt. Ja, es kann sich ja heute jeder seinen Mythos selber machen, das ist ja ein Menschenrecht, das ist kein Stil und so habe ich eigentlich immer versucht über dieses Mittel der Ausstellung einfach die Dinge zu öffnen. Mit dem Einmanntheater habe ich versucht meine Grenzen zu sehen oder eben nicht zu sehen, sondern auszuleben und dann natürlich, wenn man die Kontinuität geht und ich meine auch da war ich privilegiert, weil die Kunsthalle Bern hatte kaum Geld, 60. 000 Schweizer Franken Subventionen im Jahr, davon habe ich zehn Ausstellungen gemacht und dann muss man wirklich solche Dinge tun, die man exportieren kann, ja, weil dann kann man den Transport teilen, Versicherung teilen und irgendwie hat das wunderbar funktioniert. Ja, so kam es zu den Ausstellungen und jetzt mache ich Ausstellungen seit 1957 und bin immer noch dabei.
Felicia Herrschaft: Wie kam es, dass sie sich auch als Kurator verstanden haben?
Harald Szeemann: Kurator heißt ja normalerweise der Pfleger, der Kurator.
Felicia Herrschaft: Der sorgfältige, der fürsorgliche?
Harald Szeemann: Ja gut, es ist einfach eine Berufsbezeichnung. Früher hiessen wir Ausstellungsmacher, Ausstellungsorganisatoren und dann sind wir auch Ausstellungsautoren. Wir shiften ja ständig, wenn sie mit einem Einzelkünstler zusammen arbeiten sind sie ja eher der Diener, oder sie machen es einfach möglich, wenn sie dann natürlich solche Abfolgen - und gerade nach der Documenta - da hatte ich irgendwie das Gefühl, wenn ich jetzt also unabhängig bleibe, dann muss ich ja Ausstellungen erfinden, die die Museen nicht machen können. Ich kann ja nicht sagen, jetzt macht mal den Mario Merz, da können die selber drauf kommen und deshalb habe ich mir gesagt, ich muss jetzt selber gewissermassen, eine Institution aus mir machen. Ich bin die Agentur für geistige Gastarbeit, was damals durchaus politischen Sinn hatte, weil es entstanden die ersten Parteien gegen Überfremdung und gegen Arbeiter aus dem Süden, aus Italien, dann kommt Spanien, dann kommt Portugal, dann kommt der Balkan, die Türken, und jetzt ist es Sri Lanka und Indien und Vietnam und so weiter. Und damals entstand eben diese erste Partei von Herrn Schwarzenbach gegen Überfremdung und so war das natürlich auch als Provokation gemeint. Ich habe ja keinen Schweizer Namen, der ist ungarischer Abstammung und so weiter, so habe ich auch mit ihm gespielt. Ich hatte ja damals nichts mehr zu tun nach der Kunsthalle in der Schweiz, sondern ich arbeitete an Happening Fluxus. Das war in Köln, das Ding als Objekt war in Nürnberg und Oslo und die Documenta 5 war in Kassel. So war ich auch Gastarbeiter. Aber eben nicht manuell sondern geistiger Gastarbeiter und natürlich habe ich mir dann gesagt, jetzt muss ich mir irgendwo ein Ziel setzen und das war das Museum der Obsessionen wobei ich von Anfang an sagte, das kann es nie geben, Anarchie und sexuelle Revolution können sich nicht ausstellen? Und so hat sich das dann so verfestigt, das im Grunde genommen alles was ich tue eine Annäherung ist an ein mögliches Museum der Obsessionen, das es nie geben kann.
Wenn sie von der visuellen Kunst herkommen, dann ist natürlich das Museum der Schutzraum. der Ort, wo sie ganz fragile Dinge machen und fragil sind sie ja, weil es immer nur einer ist, der sie tut, oder? Das ist ja kein Massenprodukt und auch wenn es ein object trouve ist, wird es im andern Kontext wieder fragil und es ist nicht mehr im Konsumkreislauf. Von diesem Moment habe ich ganz bewusst Museum der Obsessionen gesagt, das gab es eben noch nie. So habe ich mir dann gesagt, im Grunde genommen gibt es drei große Themen: den Junggesellen, so funktionieren die meisten Männer, geschlossener Kreislauf im Kopf und so weiter, dann die Mama, natürlich durch die Geburt wird das durchbrochen. Wobei natürlich für mich das schwierig war diese Ausstellung zu machen und weil ich kann ja keine Kinder kriegen. Es wurde dann ja wieder einfacher über die Erziehung, wie funktioniert das? Das haben sie ja oft wieder in der Junggesellenmaschine. Und dann die Sonne. Genau zum richtigen Zeitpunkt kam ich wieder ins Tessin, über eine Liebesgeschichte und dachte mir, also dieser Monte Verita, wenn man mal diese Geschichte ausgräbt, dann hat man eigentlich den nordischen Menschen, der zurück will zur großen Mutter. Das erste Buch über die große Mutter ist ja auch hier erschienen, nicht? Das war von Erich Neumann.
Gleichzeitig hofften natürlich die Leute, die den Süden als Projektionsebene ihrer Utopien oder Visionen oder was auch immer wollten, natürlich das ihnen über das Klima geholfen wird. Mehr Sommertage, hier 253 garantierte und so weiter. Verstehen sie? So kam es dann zu dieser Monte Verita Ausstellung, weil für mich die Suche nach der grossen Mutter und eben die Sonne zusammen kamen. Bei Sonne hat mir immer vorgeschwebt, das wir eine hierarchische Gesellschaft haben, die der Sonne nachlebt wie die Inkas. Der Heilige Franziskus von Assisi hat auch die Sonne besungen. Das macht so eine bipolare Ausstellung aus. Diese Inkaschätze kriegen sie auch nicht. Aber gut, der Monte Veritahat das alles abgedeckt. Dann kam natürlich der Ehrgeiz jetzt wieder auf die Genieebene zu gehen, der Hang zum Gesamtkunstwerk, weil der Monte Verita ist absolut wagnerianisch interpretiert. Es gibt eine Parsifalwiese, den Harassprung, den Walkürefelsen und all so was. Gleichzeitig das indische, das sie mit dem Parsifal auch drin haben, dann haben sie die Casa Anatta, Casa Selma, Holzpavillon Chiaro mondo dei beati und die Gedichtsäle, die Casa San Franscesco, die Casa Selma, die Hommage an die nordische Dichtung. Auf der Genieebene war es dann wieder möglich, ja, von der deutschen Romantik, Rune bis Beuys und französisch, den Revolutionsarchitekten, dann die Räume von Schwitters einzubringen. Es war aber im Grunde genommen eine Ausstellung über etwas das nicht existiert, denn das Gesamtkunstwerk existiert nicht, denn das würde ja eine neue Gesellschaft voraussetzen. Die gibt es immer noch nicht. Und so fand ich plötzlich den Absprung. Ich meine wenn sie eine Documenta gemacht haben, mit der aktuellen Kunst und dann die nächsten zehn Jahre versuchen Dinge zu visualisieren über das Medium der Ausstellung, die bisher nicht gemacht wurden, da war ich natürlich auch wieder froh in den Achtziger Jahren hier in Zürich Ausstellungen zu machen. Jetzt konnte ich den zweiten Schritt machen mit den Künstlern, die ich jung gezeigt habe. Die erste große mit Polke, mit Bruce Naumann und so weiter. Dann auch thematisch, dazwischen das Prinzip Hoffnung oder visionäre Schweiz aus einem großen Netz. Da ich nicht im Staff war, konnte ich natürlich auch immer andere Dinge tun und auch da war ich wieder privilegiert, weil ich sämtliche Räume zum ersten Mal ausprobieren durfte, mit der Kunst. Sei es der Hamburger Bahnhof in Berlin der gerade umgebaut wurde, 1988 war das noch vor dem Fall der Mauer oder ob es das Museumsquartier in Wien war oder ob das die Salpetiere Kapelle in Paris war oder was auch immer. Ich meine es war super oder die Deichtorhallen Hamburg, die habe ich auch als erster bespielt oder Porto diese wahnsinnig schöne Architektur aus der Revolutionszeit, also im Grunde genommen ist das für mich eigentlich immer genau zur richtigen Zeit gekommen.
Felicia Herrschaft: Der Übergang ist vielleicht interessant, da ein Netz an Begegnungen wichtig wurde und immer noch wichtig ist und gleichzeitig gibt es auch die eigene Geschichte. Ist es dann eine andere Linie, die Großvaterausstellung über den eigenen Großvater und dessen Tätigkeit, dessen Nomadenleben etwas zu machen? Wie steht dies in Beziehung zur Agentur der geistigen Gastarbeit? Irgendwie sind sie dann für viele mit der Documenta 5 über Grenzen gegangen?
Harald Szeemann: Bei mir war es so, das ich eigentlich in Deutschland nichts mehr zu erwarten hatte - in der Schweiz auch nicht, weil ich da immer noch das schwarze Schaf der Kunsthalle Bern war.
Felicia Herrschaft: Das hat sich bis nach Deutschland ausgewirkt?
Harald Szeemann: Ja, nein, verstehen Sie, irgendwie, wenn sie die Documenta machen, sie sehen es zum Beispiel beim Okwui, der die letzte Documenta gemacht hat, sie fallen selber in ein Riesenloch, weil das ein irrsinniger Stress war und auch Cathrine David, jahrelang hat die nichts gemacht, die zog nur rum und jetzt hat sie wieder de Witt in Rotterdam und sie können auch selber nicht mehr einfach nur eine Situation übernehmen, es geht dann alles so zusammen.
Felicia Herrschaft: und was passiert da genau?
Harald Szeemann: Das Leben ändert sich. Bei mir kam auch die Scheidung dazu, nach der Documenta. Gleichzeitig sind sie jetzt berühmt und auf der anderen Seite interessiert sie das gar nicht so, wenn sie jetzt jeder fragt: "what is your next show?" Also ziehen sie sich zurück? Gut, ich habe dann Arlov geholfen ein Schiff anzumalen und solche Dinge. Dann habe ich seine Ausstellung eingerichtet in Mailand und habe dann auch dieses Konzert von Matt Coleman gemacht und damals habe ich mir gesagt, jetzt muss ich wirklich etwas tun, was nach dieser irrsinnigen Öffentlichkeit intim ist. Mein Großvater ist 1971 gestorben achtundneunzigjährig und ich war damals in Kassel, um die Documenta voranzubringen. Ich habe meinem Bruder gesagt er soll alles aufbewahren, weil ich etwas damit machen will, mit diesem Nachlass und ich habe irgendwie versucht, das war eben die Vorstufe zur Ausstellung, die Junggesellenmaschine, die man ja auch nicht mehr einfach mit wertvollen Bildern bestücken kann und diesen ganzen Mechanismus, das keine Energie verloren geht, das gewissermassen über den geschlossenen Kreislauf Perpetou Mobile, der Tod überwunden werden kann. Da musste man als Ausstellung anders lösen. Und eigentlich hat mir dieser Großvaternachlass ungeheuer geholfen. Ich habe ja die Ausstellung in meiner Wohnung gemacht, nur meine Wohnung habe ich ja dann aufgegeben, weil die Familie nach Paris gezogen ist. Die Wohnung war im Künstlercafe von Bern über dem Restaurant Commerce und die wollte dann der Tony Gerber, also der Galerist mieten. So war eigentlich die Eröffnung der Großvaterausstellung dann genau an dem Tag an dem Toni Gerber seine Galerie eröffnete. Ich habe dann versucht mit allem was vom Großvater da war eine Art Thematik reinzubringen, natürlich die östereichisch-ungarischen Wurzeln, dann sein Beruf, Frisör, also durch die Tortur zur Schönheit, weil ich meine diese ersten Dauerwellenapparate, das waren ja echte Torturwerkzeuge und alle diese Brennscheren und was da alles war und dann seine Privatsphäre - er hat immer so Bilder gesammelt - und ich habe dann über das Bett, die religiösen Bilder gehängt, über die Nähmaschine die jungen Damen und über den normalen Spiegel die reifen Damen. Ich habe dann versucht eine ikonologische Aufstellung zu machen. Und was mich dann am meisten erstaunt hat war, das die Kundinnen, die sind alle gekommen und haben auf ihn gewartet. Das heisst, das hat mir gezeigt, man kann also über die Ausstellung jemanden so evozieren, dass die Leute denken: der lebt noch. Das war für mich die große Erkenntnis, über diesen Rückzug ins Intime mit dem Nachlass meines Großvaters. Und der war natürlich ein Haarkünstler. Ich war erstaunt, ich meine der Spiegel hat etwas gebracht über diese Ausstellung, ja gut, weil ich sie gemacht habe, weil das dem Ganzen eine andere Wendung gab im Ausstellungswesen. Da muss man eben solche intimen Sachen machen. Hans Ulrich Obrist hat dann auch solche Dinge gemacht, an abgelegenen Orten und ich habe ja auch hier in der Walfahrtskirche Fotos in die Kirche gehängt und den Mönchen ein kleines Pilgermuseum gemacht und meinem Freund, dem Clown Dimitri sein Museum der Komik im nächsten Dorf. Alles so Dinge die nicht eine große Reklame um sich haben, aber für mich wichtig sind, zwischen zwei großen Biennalen, so ein kleines Museum zu machen im Nachbardorf, ist einfach schön, oder? Das bereichert die poetischen Situationen. Und das war es eigentlich, oder? Das war wirklich eine Reaktion, weil eine Dokumenta ist immer auch brutal, alles was da ein bisschen verfeinert ist, der Verbrauch der Dinge ist in den hundert Tagen ungeheuer. Und irgendwie wollte ich auch jetzt etwas das ganz geschützt war und intim dagegen stellen, oder?
Felicia Herrschaft: Spielen diese Kontraste dann immer wieder eine Rolle? Oder verändern sich diese Kontraste?
Harald Szeemann: Oh ja, ich meine bei der Dokumenta 5 war eigentlich alles angelegt auf einen Initiationsweg. Sie konnten anfangen mit der Werbung, eigentlich mit den Bildern, die sie anlügen, oder, weil sie etwas anpreisen, meistens nicht halten und es endete ja dann via individuelle Mythologien, via Konzept, via neuem Realismus und endete ja dann über das Büro von Beuys, der sich da hundert Tage mit dem Publikum unterhalten hat. Das Büro für direkte Demokratie endete dann unter dem Dach des Fridericianum, mit La Monte Young, wo man einfach abfahren konnte. Das war dann einfach nur noch ein Ton oder man konnte sich da hinlegen und richtig so wegdrehen. Und so war es eigentlich ein Bild das einen anlügt bis zum Soundenvironement das einen entführt. Nur ich muss sagen, die Franzosen haben das sofort gemerkt, diese innere Struktur. In Deutschland war es totales Unverständnis, Monate. Bis dann gegen Ende September, hat es sich dann gedreht. Seither heisst sie immer noch die Beste. Wenn sie es selber machen sagen sie immer das ist die einzig mögliche in diesem Moment, oder?
Ich habe immer gesagt, wenn man mich fragte, willst du es jetzt besser machen und ich habe immer gesagt: "ich muss einfach die einzig mögliche machen." Das war ja eine komplexe Situation, es war ja sehr nah an '68 und da waren alle diese Theorien über Kunst, wo man mehr lesen musste als zu sehen war. Es war ja ein Skandal, weil ich sagte drei Monate vor der Eröffnung: „Die Kunst kehrt zu sich selbst zurück.“ Ein Aufschrei der Empörung, „nee, man muss es theoretisch machen.“
Felicia Herrschaft: Inwiefern kehrt die Kunst zu sich selbst zurück?
Harald Szeemann: Ich versuchte einfach, sagen wir mal diesen thematischen Ansatz eben, diesen Initiationsweg, der ja parallell lief zu Bazon Brocks Dreischritt, aber dann natürlich, wenn sie selber einladen, einen Panamarenko, dann sind das wieder autonome Geschichten. Die können sie dann nicht irgendwo einbauen, also so, dass dann diese Thematik auch wieder durch die Kunst zu sich selbst zurückgekehrt und sich also nicht einbauen lässt in theoretische Konstrukte, aber eben das war im weitesten eine thematische Ausstellung, aber wenn die Kunst den autonomen Präsentationsstill wollte, dann hat sie ihn bekommen, das war eben immer ein Shiften zwischen beiden. Das war genau das was heute passt an dieser Dokumenta, dass sie nicht mehr reine Kunstausstellung war, das sie sehr viel Unbekanntes gebracht hat.
Felicia Herrschaft: Damit erklärt sich auch die individuelle Mythologie, wenn etwas selbst zu sich zurückkommt?
Harald Szeemann: Na ja, verstehen Sie, ich habe ja die Bildnerei der Geisteskranken, die damals auch nicht, sie hatten nach Konchi(?) der damals sehr sehr psychotische Performances gemacht hat, es war auch damals Rainer, der auch immer ganz nah an der art brut war, also es gab dann plötzlich für die, die sehen wollten diese Ausweichpunkte. Also ich habe dann die Geisteskranken für sich in Räumen gezeigt. Ich bin dann nicht in Kommentare verfallen über die Kunst. Und das meinte ich eben, „sie kehrt zu sich selbst zurück“, ich habe sie aus diesen ganzen theoretischen Kontext gelöst. Wenn sie das Vorwort lesen von Hans Heinz Holtz, dann endet es ja da wo eigentlich die Dokumenta angefangen hat. Nur so weit konnte man eine marxistische Kunsttheorie, die vom Auratischen an die Angleichung des Alltags geht beschreiben, wenn eigentlich dieses Auratische immer mehr wegfällt - nur so konnte man es beschreiben. Und das war auch sehr typisch. Die Kölner Galerien, haben dieses Hochhaus gemietet in Kassel und dachten dann die Leute kommen zu uns, die sind dann frustriert wegen der Dokumenta, aber sie mussten dann zumachen, weil die Dokumenta war viel spannender als das Galeriehaus. Wenn sie solche Dinge tun, das war bei der Biennale dasselbe, irgendwie müssen sie so intuitiv ‚ne Vision' haben und dann versuchen, der so nah wie möglich zu kommen. Und dann natürlich was für mich immer wichtig war, ich habe es immer mit den Künstlern gemacht. Ich meine deshalb habe ich meine dreihundert Flüge im Jahr. Vorgestern war ich in einem kleinen Dorf bei Vigo in Galizien um diesen Dorffotografen zu besuchen und dort seine Fotos auszuwählen. Ich glaube, das ist so ungeheuer wichtig, dass man das immer direkt mit den Kreativen macht, oder?
Felicia Herrschaft: Ja, das ist überhaupt eine spannende Frage wie die Zusammenarbeit und Beziehung zu den Künstlern hergestellt werden kann?
Harald Szeemann: Sie müssen fast alle haben. Wenn sie eine Biennale machen, dann müssen sie jeden Künstler auf dem Bildschirm haben und gucken wer bezahlt das und dies und gleichzeitig müssen sie hineinbauen in die Vision, die sie haben von der Ausstellung in dem Moment. Das ist ja eigentlich was mir immer so viel zu tun gibt, was aber auch das spannendste und auch irrsinnige Meditation verlangt. Auch als ich die Beuys Ausstellung machte, er war gerade gestorben und ich wollte eigentlich, das er auch überlebt als Bildhauer, jetzt nicht mit hundert Büchern über seinen Christusimpuls und über seine Anthroposophie, über das wilde Tier oder über die soziale Komponente oder über den Geldkreislauf, sondern als Bildhauer. Ich habe einfach dasselbe gemacht wie er und habe mich richtig konzentriert. Wenn die Dinge ankamen habe ich gesagt: “zeigt her“, ohne jetzt viel Rücksicht auf das Ganze: also Abstellen und nicht Ausstellen. Und da passierte dasselbe wie beim Großvater: die Freunde von ihm dachten, jetzt kommt er dann gerade um die Ecke. Das finde ich ist immer das Tollste, ich meine, das ist so, dass ich eigentlich seinem Energiefeld vertraut habe, vielleicht hätte er es anders gestellt, ich weiß es nicht, aber ich war auch wieder glücklich, weil ich kriegte noch alle großen Installationen, die überhaupt noch reisen können und so war es mir möglich mehr ein Energiefeld zu machen, als eine Ausstellung. Das sind aber immer diese Exerzitien, wie machen sie es richtig, gleichzeitig wollen sie ihre Vision und gleichzeitig wollen sie, das sich der Künstler frei ausdrücken kann. Deshalb wähle ich auch solche Titel. Individuelle Mythologien, das habe ich wirklich getestet, allen Künstlern gesagt: „wie findest du das? Fühlst du dich beengt?“ Und die haben gesagt: „prima“. Und wenn ich sage „Zeitlos“ da hat keiner was dagegen.
Felicia Herrschaft: So viele, auch Kasper König sind doch sehr stark von Ihnen beeinflusst - also das Museum der Obsessionen, was könnte dem entsprechen?
Harald Szeemann: Ich materialisiere es ja nicht immer, eigentlich habe ich diesen Beruf kreiert, oder? Der unabhängige Kurator, der freelancer. Und ich sage eigentlich immer „meine Söhne“, die haben eigentlich immer geguckt, dass sie Museen leiten. Rudi Fuchs, Amsterdam, Jean Christoph Ammann, der ja bei mir angefangen hat, als ganz Junger in der Kunsthalle Bern, Stanley Felix, der hat auch bei mir, nach dem Prager Frühling habe ich den dann an die Kunsthalle Bern geholt und Kasper König ist jetzt nicht ein Sohn, der hat eine eigene Geschichte gehabt. Das erste mal war er Kurator des Mausmuseums von Oldenburg in Kassel. Aber, dass die eigentlich immer noch über die Institution von dem Museum der Wünsche gesprochen haben, was sich dann letztlich auf eine Sammlung bezieht, die dann abrufbar ist, die kollektive Memoria? Ich habe auf das eigentlich immer verzichtet, ich meine wenn der letzte gestorben ist, der meine Ausstellung gesehen hat, dann ist wahrscheinlich auch die Memoria da, dann zittert das wahrscheinlich noch ein Weilchen weiter als individueller Mythos, aber dann ist es ja vorbei und das finde ich eigentlich gut. Als ich die Chinesen ausstellte, in Venedig eigentlich zum ersten Mal autonom ausstellte, weil ich ihnen Räume gab mit den Westlern, haben sie mich gefragt „what is our future?“ dann habe ich gesagt: „Je intensiver man die Gegenwart lebt, desto besser ist die Future, oder? Und natürlich, ich vertrage mich eigentlich viel besser mit diesen Jungen, vor allen Dingen Damen, die jetzt auch freelance curator sind wie Rosa Martinez in Spanien. Meistens haben sie eine kleine Installation, sonst können sie gar nicht überleben. Es gibt in jeder Stadt im Balkan ne wahnsinnig energetische Dame, die die Informationen hat was in dem Land überhaupt vorgeht, die erste die das wirklich gemacht hat und eine tolle Frau ist, ist Zdenka Badovinac in Ljubljana, die auch zum ersten Mal versucht hat Ost und West zusammenzubringen und das sind für mich die, die dasselbe wollen wie ich und unabhängig bleiben mit allen Imponderabilien, ja des Wohlstandes. Man ist natürlich ewig abhängig und hat immer Schulden und so weiter, weil plötzlich will man etwas machen, aber das Budget ist nicht da und dann guckt man und nimmt noch etwas an, wo man etwas mehr kriegt und pulvert das dann wieder hierein, damit das so wird, wie man das selber will und so weiter, dieses ewig auf dem Eis herum tanzen und eben dieses Risiko gefällt mir natürlich bei den Jüngeren und ich meine, sie denken ja, ich sei der Großvater der unabhängigen curators, oder? Meistens verträgt sich ja auch der Großvater besser mit den Enkeln als mit den Söhnen, oder? Wie in der Stammesgeschichte.
Felicia Herrschaft: In Bezug auf das Büro für direkte Demokratie, thematisiert Beuys Fragen: wann sind Menschen eigentlich kreativ, wie geht überhaupt Gleichberechtigung für Frauen, was heißt tatsächlich mitzubestimmen oder was heißt freie Bildung, freie Schule, Zugang zu Bildungsmöglichkeiten. Das sind Themen, die jetzt immer noch wichtig sind, dass man davon sprechen kann, dass das was dort als Utopie aufgeworfen wurde sich in den Alltagsvorstellungen langsam realisiert hat. Die Kuratoren heute, versuchen eher die Art und Weise darzustellen, wie sie sich vernetzen können, so dass man dann eigentlich nicht mehr von utopischen Fragen einer Gesellschaft ddurch die Kunst sprechen kann?
Harald Szeemann: Ich sage ja immer, es gab zwei Revolutionen in der Bildenden Kunst im zwanzigsten Jahrhundert: Die erste war vor dem ersten Weltkrieg, mit Malewitsch, Kandinsky, Duchamp, später auch mit Mondrian und so weiter. Und dann gab es die zweite und das war natürlich Ende der Sechziger Jahre und da gehört die Arte Povera dazu, da gehört natürlich Beuys maßgeblich dazu. Was ich bei Beuys wirklich interessant finde, das ist dieses anarchische Gut, das da weiterlebt und im Grunde genommen sagt er, dass das eigentliche Kapital nicht das Geld ist, sondern das Kapital der Menschheit ist die Summe der Kreativität aller Individuen. Von daher sagt er, jeder Mensch muss an seinem Ort kreativ sein. Das ist der Sinn dieses Satzes, jeder ist ein Künstler! Das heißt, nicht das jeder malt oder was auch immer – und gut das ist die Weitergabe von Beuys und mit dem Monte Verita, war mir dieses ganze Gedankengut der dritte Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus ganz unideologisch, damit eben die Kreativität fließen kann, weil sie im Dienst einer Ideologie steht. Also gibt es wieder Unterdrückung, gibt es wieder Diktaturen, das ist natürlich immer die alternative Geschichte gewesen in Europa und von daher gesehen ist Beuys weiter aktuell. Er ist heute weniger aktuell, weil er natürlich in seinen Vorraussagen sich verrannt hat. Er hat eigentlich geglaubt, wenn die Mauer mal fällt, dass die Nationalismen auch verschwinden und es ist genau das Gegenteil der Fall. Ich meine, das sieht man in Europa jetzt. Da tun sich wieder die drei Mächtigsten zusammen. Europa der zwei Geschwindigkeiten. Das ist inhärent, aber was eben toll ist, das ein einzelner Künstler eben solche Visionen, solche Utopien für möglich hält und in seiner Zeit kam es ihm darauf an dieses Gedankengut weiterzugeben. Und er hat ja dann auch was für den Kunstmarkt nicht so günstig war, eben alles signiert, was ihm gefiel und hunderte von Multiples rausgeworfen. Als er gestorben ist, sind ja alle mit ihren Postkarten auf den Markt gerannt und haben die verkloppt. Das war ja gar nicht Sinn der Sache. Aber verstehen sie, natürlich konnte er das i>Büro für direkte Demokratiegegen die Parteienherrschaft setzen, denn im Grunde genommen ging es ihm darum den Menschen zu befreien, das er nicht etwas delegiert an andere, die dann etwas entscheiden für ihn, eine absolut anarchistische Idee, das jeder Mensch mündig ist. Ich bereite gerade die Ausstellung in Spanien vor, die Anarchie in Spanien, die ja Baconistisch geprägt war, gerade weil Bacun ihnen gesagt hat Frau und Mann sind gleich. Während Bruton und die anderen gesagt haben, die Frau ist minderwertiger als der Mann. Deshalb kam es ja auch zu diesen Organisationen der Mujeres libres. Das ist im Grunde genommen dieses alte anarchistische Gedankengut, das der Beuys da weiter dreht und dann kam noch der anthroposophische Impuls und der Christusimpuls und der kam dann natürlich auch über die Anthroposophie und Steiner, während der Gesamtkunstwerkausstellung gab es eine Diskussion zwischen Bizanz dem damaligen Anthroposophiechef in Dornach und Beuys und die Anthroposophen haben ja zu seinen Ideen gesagt "aber nein". Zu seiner Kunst: "Ja", weil das nicht mehr dem Kanon von Rudolf Steiner entsprach und so weiter, aber gut, was wir können als Kuratoren, wenn Beuys ein Büro machen will und nicht mehr eine Skulptur hinstellt, gut, du kriegst dein Büro. So ist das.
Felicia Herrschaft: Und diese Kuratorenszene? Gilt da internationale Vernetzung als Utopie?
Harald Szeemann: Utopie das ist immer gut, solange das arretiert wird, funktioniert das auch nicht. Ich meine, ich weiß der Hans-Ulrich (Obrist) ist absolut auf dieser Linie und ich mag das irgendwie auch, aber verstehen Sie, wie können sie es am Schluss wieder zurückführen? Jetzt kam die ganze Diskussion über die Biennale in Venedig, also der Bonami hat elf Kuratoren ernannt und gesagt, das ist jetzt die Alternative zu dem Alt-Visionär Szeemann, dem Großvater und wir machen jetzt die internationale Vernetzung. Ich habe für die Dokumenta 5 mit 32 Leuten zusammengearbeitet, oder? Ich konnte ja nicht alles selber machen.
Felicia Herrschaft: Also kein neues Thema?
Harald Szeemann: Das war für mich kein neues Thema, nur der Unterschied ist, ich habe mir natürlich die Oberaufsicht über alle anderen Gebiete vorbehalten, während jetzt diese Fragmente nebeneinander gestellt werden. Ich meine international vernetzt sind wir sowieso alle. Ich weiß was in Taiwan vorgeht, nur habe ich halt immer noch die Verantwortung für eine bestimmte Auswahl, in einem bestimmten Konzept, mit bestimmten Gegebenen. Wenn die nicht stattfindet, dann verfließt das ganze, kristallisiert sich nicht um irgendetwas. Ich weiß, das jetzt, es war vor allen Dingen in jedem Interview von Bonami zu lesen: wir wollen gerade das Gegenteil von Szeemann. Mir ist das nur egal, von mir aus kann jeder machen was er will.
Felicia Herrschaft: Zumindest ist ihm möglicherweise die Subversion nicht gelungen, wie sie Beuys vor über fünfunddreißig Jahre mit dem Büro für Demokratie noch gelungen ist?
Harald Szeemann: Ja, gut verstehen Sie, bei Beuys gibt es halt noch andere Dinge, dass zum Beispiel die Witwe dieses Nachlasses verhindert, das jüngere Leute ihren Zugang zu Beuys gewissermaßen zeigen können. Wenn ich denke, was da immer noch für eine Zensur ist, dann darf Karoline Tesla nicht auf deutsch erscheinen oder wenn ein Arzt in Osnabrück über das Röhrenherz und die Plazenta bei Beuys schreiben will. Die hat verboten, dass er die Abbildung bringt und so weiter. Ich meine, das ist das unangenehme bei Beuys. Ich habe gemacht für Beuys, was ich konnte und die große Ausstellung ist wahrscheinlich auf Jahre hinaus die letzte, die so groß sein konnte. Auch diese Größe und Installation, die werden nicht mehr geliehen, der Filz wird brüchig und das Tannenholz splittert und in Eindhofen ist jetzt der Neubau eingerichtet, dann wird es auch nicht mehr ausgeliehen und Darmstadt bleibt wie es ist. Ich habe ja versucht bei der letzten Biennale diese beiden Pole einander gegenüber zu setzen wo ein Beuys Menschen große Steine und ein großes Auge ausfräst und die am Boden hinlegt und sagt „äh ich nenne dass das Ende des zwanzigsten Jahrhunderts und ich hoffe eigentlich, das wir mit unserer Wärme fähig sind vielleicht im einundzwanzigsten diese anorganisch betrachtete Materie dieser Steine zum Aufstehen zu bringen, oder?
Während die Jüngeren - die nehmen sich aus dem Existenzrahmen ein Fragment raus - sind viel präziser, aber sie sehen dann genau das was es ist, während diese prophetische Geste, "Steine erhebt euch", die ist im Moment überhaupt nicht aktuell bei diesen jungen Künstlern und Kuratoren. Auf der anderen Seite konnte ich diese Geste zeigen. Damit bin ich aufgewachsen, mit Beuys. Auf der anderen Seite konnte ich mit den jungen Künstlern eigentlich ein Leben auf Zeit darstellen. Einer hat Babys geklont, der andere hat Vater, Mutter, Hunger, Schmerz angerufen, der andere hat den Akt der Zeugung gezeigt, der eine hat die Schule gezeigt, so ging es immer weiter, das Frühlingsrauschen im Mädchenkörper und dann ging es immer weiter. Sport war früher kein Problem, kein Thema für Künstler heute ist es nicht die Reportage, sondern die Struktur des Spiels, die Physiognomien der Rugby Spieler, das Phlegma der Leute, hinter dem Stadion. Sport wird eingesetzt als Protest. Die Mauer zwischen Mexiko und den USA, bis zum Supermarkt der auch ein Thema ist, weil, da treffen sich die jungen Künstler, ziehen auch die Konsumwelt vor, was kein Thema war für Beuys. So hat man eigentlich jetzt beide Positionen zusammen. Das revolutionäre der 1960er Jahre und das nichtrevolutionäre, aber doch Positionen aus der Existenz genommene Teile, die zusammen auch wieder eine Family of Men bilden und ich meine, für mich ist das ungeheuer spannend. Ich finde sowieso der größte Computerkünstler ist der, der den größten Schaden angerichtet hat, mit einer positiven Botschaft: „I love you.“ Der hat irrsinnigen Schaden angerichtet, aber die Botschaft war positiv, aber der Virus war sehr verheerend.
Felicia Herrschaft: Louise Neri habe ich vor diesem Gespräch gefragt, was sie Sie gerne fragen würde und ihre ersten zwei spontanen Fragen waren: „Where are we going to? Und: „who are we?“ …
Harald Szeemann: Okay, „where are we going to?“, das ist immer vermessen zu sagen, wohin wir gehen. Ich mache jetzt eine Ausstellung, die ist jetzt für mich schon ein bisschen zukunftsträchtig, weil sie ist und heißt die Schönheit des Scheiterns und das Scheitern der Schönheit. Ich versuche auch eben diese positivistische Einstellung zur Kunstgeschichte noch mal wirklich zu stören. Ich fange an mit der Anarchie und da gehe ich in Barcelona über zur Anarchie, da ist vor Franko Bürgerkrieg. Dann nehme ich sicher Ikonen der so genannten Kunstgeschichte und schreibe: „das Bild ist zwar schön, aber die Ethik dahinter ist total gescheitert.“ Ob das jetzt bei Kandinsky ist oder bei Malewitsch und so weiter. Dann nehme ich sicher das Gesamtkunstwerk, irrsinnig tolle Vorstellung, gescheitert. Dann zeige ich diesen Klonfilms eines Chinesen, wo die Kindchen, die Klonkindchen ins Kino gehen und dann gucken sie sich die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts an. Es ist einfach ein totales Chaos, 1. Weltkrieg, Bürgerkrieg, zweiter Weltkrieg, Konzentrationslager, Koreakrieg, Vietnamkrieg, Atombombe und wenn der Pilz endlich oben ist drehen sie sich um und sagen, „beautiful cloud“, wunderschöne Wolke. Oder ich habe eine Installation und Hirschhorn macht mir eine Installation über Mode und Gewalt.
Felicia Herrschaft: Wie bringt er das zusammen?
Harald Szeemann: Ja, das sehen wir dann (Lachen). Man muss sich auch überraschen lassen als Kurator. Am Schluss zeige ich diesen wunderbaren Tisch. Zwei runde Tische aneinander gefügt. Auf der einen Seite sind sie so aufgebockt, die europäischen Spiele und auf der anderen Seite die asiatischen und in der Mitte steht dieses ewige Missverständnis. Es gibt keinen schöneren Kommentar zu all diesen Security Council und White House Versammlungen. Ich finde es einfach toll wie die jungen Künstler versuchen dieser so genannten vernetzten globalisierten Welt wieder Wurzeln entgegenzusetzen, weil sie keine Antwort mehr haben. Was die Chinesen in fünfzig Jahren erlebt haben ist natürlich ungeheuer und wie sie das gefasst haben von Mao „flattering flakes“ bis „it’s ployers to be rich“ und alles in fünfzig Jahren. Oder wenn ein Kosovo Künstler eine Frau zeigt am letzten Tag ihrer Freiheit, das heißt also am Tag vor der Hochzeit und am Tag nachher. Nachher ist sie nur noch Sklavin. Steht auch im Kanon, die Frau ist nur ein Gefäß, oder? Und das trägt den Samen des Mannes aus und sie darf geschlagen werden, gebunden, sie hat die Patrone im Rücken und nur also, wenn sie frech ist, kann der Mann sie erschießen und sie kann dann nicht mehr gerecht werden gegenüber ihren Eltern und so weiter, das sind immer noch die Gebräuche in den albanischen Bergen und wenn natürlich Künstler gewissermaßen über diesen letzten freien Tag, dem Freiheitstag der Frau arbeiten, dann ist das für mich zukünftig. Man muß sich dann wirklich im Kosovo umsehen und man muss das alles abklopfen. Ich habe mich immer um das Scheitern bemüht der ganze Monteverita ist ein Berg der Utopien und folglich des Scheiterns. Das Gesamtkunstwerk ist ein riesiges Scheitern. Beuys ist auch ein riesiges Scheitern, oder? Die Menschheit wird nie kreativ sein. Es wird einfach nicht möglich sein oder es gibt immer einen, der dann anhält und in dem Moment dem anderen seine Ansicht aufdrängt, das ist nicht mehr kreativ, dann ist es diktatorisch, oder?
Felicia Herrschaft: Zur letzten Biennale in Venedig wurden Künstler aufgefordert als Kuratoren tätig zu sein und das Argument von Daniel Birnbaum in bezug auf die Fragestellung der Vernetzung war eigentlich ein Karrieregedanke, der sich auch erst im letzten Jahrhundert entwickelt hat: Zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein. Der Ort wird zum Thema der Vernetzung. Großausstellungen sind dann ja auch ein wichtiger Punkt, der innere Kreis, den sie meinen, ist das dann ein Ort nicht nur der Kreativität der Überraschung sondern auch der Karriere, man trifft sich dort?
Harald Szeemann: Verstehen Sie, bei mir sind einfach die Vorraussetzungen anders. Erstens habe ich mit der Gesamtkunstwerksidee begonnen, mit meinem Einmanntheater und natürlich ist das immer noch der alte Wunsch, hinter dem was sie sehen ist eine Dimension mehr und die ist auch nicht käuflich im Kunstmarkt. Von daher mache ich auch meine Ausstellungen und natürlich die Biennale, dieser zwei Jahresrhythmus. Natürlich ist die Biennale der Ort, aber sehen Sie, Sie müssen auch wirklich den Kontext nicht kalt analysieren, sie müssen ihn intuitiv erfassen und wenn ich sehe, dass da das große Miteinander passieren soll und dabei weiß jeder, dass an der Biennale in Venedig kein Geld da ist und es war wirklich in der Obrist Abteilung, wo nun permanent etwas passieren soll, am Sonntagabend war schon niemand mehr da. Aber das ganze war ein Versprechen, das man hundert Tage lang vernetzt ist. Um Utopie geht es nicht in diesem Moment, man muss den Kontext kennen. Die Biennale in Venedig, das ist nun wirklich nicht ein so merkwürdiges Gebildes auch organisatorisch, ich meine, sie haben mal gefragt, wie viel Zeit man da hat? Vor dem 6. Januar steht ihnen diese Infrastruktur nicht zur Verfügung, die sind noch beschäftigt mit dem letzten Filmfestival und mit der Architektur Biennale. Sie können sich vorher schon Gedanken machen, aber da alles noch hierarchisch abläuft, dass der Präsident jedem Künstler einen Brief schreiben muss, können sie solche Dinge erst ab dem siebten oder wenn noch Samstag oder Sonntag ist, ab dem 9. Januar können sie das machen. Dann ist Anfang Juni Eröffnung. Fünf Monate haben sie für dieses Riesending und dann weiß man von Anfang an es gibt jedes Jahr weniger Geld. Also ich hatte das zweite mal drei Millionen weniger, jetzt hat sie glaube ich nur noch sieben und die Infrastruktur da mit diesen paar Leutchen die da im Büro sitzen. Einer ist dann Abgeordneter im Arsenale und einer verbringt den Sommer im Pattione Italya, damit können sie keine permanente Geschichte machen. Ich habe denselben Fehler gemacht bei der Documenta in Kassel und gesagt anstatt hundert Tage Museum, hundert Tage Event, bis man dann sieht, dass das nicht mal in Köln funktionieren konnte mit Happening und Fluxus, wie soll es denn dann in dieser Provinzstadt, der nordhessischen Hauptstadt funktionieren, wo nicht mal die Taxifahrer wissen wo das Fridericianum ist. Man muss sich wirklich überlegen was ist möglich und wo, wenn man es möglich macht, wirkt es dann auch subversiv.
Felicia Herrschaft: Wieviele Beuscher hatte dann die Documenta fünf? Und wieviele permanent? Das Büro für Demokratie machte keinen leeren Eindruck?
Harald Szeemann: Im Durchschnitt, täglich, hatten wir zweitausend, also ich hatte 225 000. Das erstemal waren es 155 000, das war gerade so vor der Explosion der Besucherzahlen. Die nächste Documenta hatte dann schon 380 000 und dann kamen 420 000 und dann waren es jetzt glaube ich 680 000. Also ich hatte 20 000 mehr als die vierte. Aber eben jetzt für die Ausstellung Geld und Wert von 2002, wo ich im Angesicht des Publikums 300 Millionen Schweizer Franken vernichtete, mit einem Roboter, da hatte ich über eine Millionen Besucher.
Felicia Herrschaft: Welche Infrastruktur muss gegeben sein, damit sich das realisiert? Vielleicht wird das auch eher überschätzt oder unterschätzt dieses Verhältnis der Zeitlichkeit zum Budget und dann zur Realisation?
Harald Szeemann: Es wird nicht überschätzt. Sie müssen sich fragen, wie kann ich fünf Monate so beleben, dass es funktioniert. Ich hatte für die erste Biennale 1999 diese Künstlergruppe Zerynthia mit Pedro Justi und die haben funktioniert. Die haben fünf Monate lang, jeden Tag, war in ihrem Raum eine neue Gruppe, eine neue Diskussion, aber ich habe das beschränkt im Ablauf der Ausstellung auf einen Saal, so dass, wenn die ausgefallen wären, es nicht die Frustration gibt. Wenn sie dieses Partizipationsmodell oder wie sie das nennen wollen, nicht tragen können, personell und budgetmäßig, können sie es immer versuchen, aber dann an einem Ort, so dass es nicht ins Gewicht fällt fürs Ganze. Das sind diese intuitiven synthetischen Erfassungen der Möglichkeiten.
Felicia Herrschaft: In welchem Verhältnis steht dann das Einmanntheater zum Museum der Obsessionen von dem sie sagen, dass das Gesamtkunstwerk im Verhältnis steht zu der Fähigkeit intensiv zu lieben?
Harald Szeemann: Das Museum der Obsessionen ist ja etwas das nicht existieren kann. Man muss eben auch wissen, wo die Grenze ist. Das Museum der Obsessionen können sie nicht machen, das können sie sich nur als Konstrukt denken, wenn sie gewissermaßen damit zeigen wollen, dass alles was sie tun ephemer ist, zeitbedingt, aber so intensiv, dass es sich vielleicht als Anreicherung der Memoria eignen könnte.
Felicia Herrschaft: Wenn die Frage, wer wir sind eine Rolle spielt, dann tatsächlich im Verhältnis dazu welche Antriebe da sind?
Harald Szeemann: Was heisst Antriebe? Verstehen sie, ich gehe auch durch sehr viele Ausstellungen und wenn ich spüre, dass dort die Liebe nicht dahinter steht, dann finde ich das langweilig, stinklangweilig, oder? Wenn keine Leidenschaft da ist. Ich mache das jetzt wirklich fast fünfzig Jahre und ich sehe noch kein Ende. Ich finde man muss wirklich das Gegebene annehmen und dehnen. Aber gegebenenfalls zu interpretieren, mit Wunschvorstellungen, wo man weiß, dass sie die nicht hergeben, die Gegebenen, da habe ich zu viel Erfahrung gemacht, verstehen sie, wenn in einer Stadt wie Köln, die sich zur Kunststadt mausert, nicht mal eine Ausstellung wie Happening und Fluxus dann den Eventcharakter behalten kann, in einer überschaubaren Situation, dann wissen sie, das nächste mal muss ich vorsichtiger sein. Und deshalb habe ich bei der Documenta eine Ausstellungsstruktur geschaffen, die für sich funktioniert und so war dann jedes Event gewissermaßen eine Bereicherung, aber die die Grundstruktur hat für sich funktionieren müssen, unter Tag. Natürlich wäre es toll gewesen, wenn unten nichts gewesen wäre und James Le Byars, wir hätten das Geld gehabt, damit der über hundert Tage auf dem Dach seine Geschichten macht und unten bleibt es leer, tolle Geschichte gewesen, aber es funktioniert nicht.
Felicia Herrschaft: Ein weiteres Thema, das sie überblicken können ist das Verhältnis zum Terror. Achtundsechzig bis Zweiundsiebzig, die RAF. Welche Probleme sehen Sie im Verhältnis zum islamischen Terror?
Harald Szeemann: Ja gut, jetzt gibt es die Ausstellung in Berlin und so weiter, ich weiß nicht wie jetzt der Stand der Diskussion ist.
Felicia Herrschaft: Wie war die Situation damals und was kann man heute zu der Entwicklung des Terrors ab dem 11. September sagen?
Harald Szeemann: Ja gut den 11. September habe ich visualisiert in dieser Geldausstellung, weil dieser 11. September hat irrsinnig viel gekostet. Die Versicherungsgesellschaften und weiss nicht was noch alles, mit relativ wenig Geld sind wir von der Kunst. Das Menschenleben ist die Grenze, oder? Jeder Mord ist dann nicht mehr Kunst. Kunst l’art de faszinar, das sind literarische Phantasien. Auf der anderen Seite muss ich sagen, dass dieser Anschlag auf diesen neurömischen Kontinent, der immer kleiner werdenden unbegrenzten Möglichkeiten, genial war. Bei allem Bedauern, dass da 3000 Menschen umgekommen sind. Der Akt selber, das ganze Ding, war genial. Nun auf der anderen Seite haben die Künstler wie ein Beuys das vorausgesehen und so konnte ich seine Postkarte, wo er die beiden Türme einstreicht mit Fett um ihnen eine andere Wärme zu geben, weil es waren ja, es lief eine ekelhaft kalte Geschichte, 58 Millionen verhungern jedes Jahr, weil eben die Güter nicht verteilt werden und wir lesen auch jeden Tag. was die Manager verdienen. Der Hunger tötet mehr Menschen im Jahr als es im zweiten Weltkrieg Opfer gewesen sind und jetzt hat der Beuys diesen beiden, kaum sind sie gestanden, dieses Fett verpasst und Fett war für ihn eine Materie, die sowohl chaotisch willensmäßig geformt werden kann und wenn sie erkaltet geometrische Formen annimmt. Also es entsprach dieser Dreiteilung, die auch schon Steiner für die Gesundung des Volkskörpers oder der Gemeinschaft …und er schrieb auf diese Türme: Kosmos, also Globalisierung. Kosmos und Damian und eigentlich heißen die beiden Heiligen Kosmas und Damian. Die beiden Heiligen waren Ostheilige, sie waren Ärzte und sie waren Heiler aber haben nie etwas verlangt für ihre Kunst und das ist für mich jetzt gut. Ich hab das dann so gemacht, die Teppiche der afghanischen Frauen, Kalaschnikovs auf den Boden gelegt, dann habe ich da in diesen Ausstellungen über den 11. September sechs Exponate gekauft und hab die gewissermaßen neben die Postkarte von Beuys gelegt und auf der anderen Seite gab es einen italienischen Künstler, der hat dann an Bin Laden geschrieben nach Kandahar und der Brief kam zurück. So kann man etwas visualisieren und hat gewissermaßen dieses antizipatorische: was kann diesen Türmen passieren, wenn sie eben nicht Selbstlosigkeit vertreten: Our World Trade Center.
Felicia Herrschaft: Die Kunst etabliert eben keine Prinzipien, aber die Philosophie würde tatsächlich neue Prinzipien etablieren, wie die Frage danach, wie man Grundbedürfnisse für alle sichern kann? Die Kunst ist im Gegensatz dazu das interesselose, die Anschauung…
Harald Szeemann: Das ist ja das Spannende daran...
Felicia Herrschaft: die Möglichkeiten schafft?
Harald Szeemann: Verstehen Sie, das ist doch alles durchgekaut von A-Z. Zum Beispiel habe ich letzten Sommer eine Ausstellung gemacht in einem kleinen Dorf, da sind nun wirklich hier der Friedensrichter, der hat irrsinnig viel zu tun, das ist wie Romeo und Julia, um einen Quadratmeter oder um eine Ziege werden über Generationen Prozesse geführt und jetzt musste man doch ideell zeigen, dass es doch eine Dorfgemeinschaft ist? Darf man über deinen Balkon eine Linie ziehen und so weiter, so das die Kunst etwas beitragen konnte zu gemeinschaftlichem Vorgehen und nicht im Privaten blieb, oder? Kunst kann eigentlich die Vorstellung im Kopf verändern und auf der anderen Seite hat ein junger Künstler eine Kapelle ausfindig gemacht, die noch nicht glasiert ist, noch kein geschütztes Denkmal und er nannte das "Operation Ex Voto" und wollte nun die Kapelle nach der Ausstellung abtragen und ins Museum nach Bagdad schicken, das ja gerade geplündert wurde und natürlich hat der Pfarrer eigentlich nichts dagegen, aber plötzlich kam so ein Druck, ein paar ältere Damen, die haben dann ja eigentlich aufgemöbelt gegen dieses Projekt, das ihre Kapelle nach Bagdad geschafft wird, oder nicht, spielt eigentlich keine Rolle, wichtig war, das man im Grunde genommen etwas, das sie vergessen hatten und nach dem man es nun dislozieren will, wird es plötzlich wieder wichtig, oder? Da hat die Kunst irrsinnig viele Möglichkeiten. Und deshalb sage ich ja, ich meine, ich weiß, das jüngere Kollegen sagen, "jetzt macht er auch in Spanien" und so, das ist doch gar nicht mehr aktuell in einem Land wie Spanien. Ich behaupte in einem Land, das zufälligerweise noch eine Nation ist, ist ein kreatives Klima spürbar und in dem Moment kann man das wieder machen. In Frankreich kann man das nicht mehr machen. In Spanien habe ich zwanzig Jahre darauf gewartet, bis es so weit war und plötzlich können sie in einem richtigen Moment zugreifen, oder? In dem Moment haben sie dasselbe Phänomen, dass ja diese Hunde von dem Centero Luminoso, die Hunde wurden aufgeknöpft an Strassenlampen mit den Maosprüchen, in Peru. Er hat dann diese Installation gemacht mit Franko der aus dem Grab steigt, als komme er zur Nation zum 50jährigen Bestehen des Paktes mit Eisenhower, das Zugeständnis damit Spanien in die Vereinten Nationen kam, aber den Marshall Plan hat er abgelehnt, weil sonst hätte er demokratischere Kompromisse schließen müssen. Plötzlich kommt ein junger Künstler und zieht das hoch. Es gab noch nie einen Künstler der mit Franko so etwas gemacht hat und das ist dann der richtige Moment und den muss man halt leben und ob daraus jetzt wieder eine neue Revolution kommt, wo die Kunst wieder aggressiv wird oder eine Utopie? Man spricht nur von den halbverwreckten Utopien, aber das waren - sobald man ein Utopie realisieren will, ist das sowieso Käse, dann wird es zu einer Diktatur. Das utopische Denken ist ein wunderschönes Denken, solange es im Fluss ist, aber wenn man es arretiert, versucht man jemanden zu überzeugen, der das gar nicht wissen will, dann ist es schon vorbei, dann ist das Kreative schon weg.
Felicia Herrschaft: Durch Ausstellungen bleibt es utopisch? Alles was dort passiert?
Harald Szeemann: Ja, man kann sie ja nur andeuten. Ich habe mal mit Mario Merz eine Ausstellung gemacht und ich habe gesagt, weißt du, es gibt jetzt eine Möglichkeit, man macht jetzt wieder kleine leise Räume und da steht dann hier der Iglo von Pompidou und da steht der von der Sammlung Herbert und da steht der von der Sammlung Sonnabend oder wir mischen mal alles, dann gibt es eine Iglostadt, die dann wirklich irreal ist, weil man kann ja in keinen rein, weil es ja ein Kunstwerk ist, oder? Aber in dem Moment ergibt sich eine vollkommen andere Möglichkeit, dass da so was wie ein Negergral wird oder eine irreale Geschichte und in dem Moment nimmt man jedem Teil seine Besitzsphäre und das ist eigentlich schnuppe, oder? Es ist sowieso alles verzögert, nicht? Wenn ich heute nach Bern gehe und meine Mutter besuche, dann sagt einer irgendwo in einer Kneipe: „oh, was du da in den Sechziger Jahren gemacht hast, war schon gut.“ Damals hat das der sicher nicht gesagt, so ist das und das ist ja auch schön so.
Felicia Herrschaft: Ich bedanke mich für das Gespräch.
Ausstellungen:
05.05.06 - 21.10.06 The Great Wall 2006 Hamburg
18.02.05 - 15.05.05 La Belgique visionnaire - C´est arrivé près de chez nous Palais des Beaux-Arts, Brüssel
03.10.04 - 05.12.04 1. Internationale Biennale Zeitgenössischer Kunst Sevilla Biennale Sevilla
28.05.04 - 24.10.04 The beauty of failure / The failure of beauty Fundació Joan Miró, Barcelona
10.02.04 - 02.05.04 The Real Royal Trip Patio Herreriano Valladolid
21.07.03 - 31.12.03 "G 2003" - Kunstgipfel am Lago Maggiore "G 2003", Vira Gabarogno
03.06.03 - 15.09.03 Europe Exists - Art Union Europe II Macedonian Museum of Contemporary Art, Thessaloniki
16.05.03 - 28.09.03 Blut & Honig - Zukunft ist am Balkan Sammlung Essl, Klosterneuburg
10.06.01 - 04.11.01 49. Biennale Venedig 2001 Biennale Venedig
13.06.99 - 07.11.99 48. Biennale Venedig 1999 Biennale Venedig
09.07.97 - 24.09.97 4. Biennale de Lyon 1997 Biennale Lyon
1996 Austria im Rosennetz
1995 Hundert Jahre Kino
1996 Austria im Rosennetz
1983 Der Hang zum Gesamtkunstwerk
1980 39. Biennale Venedig 1980 Biennale Venedig
1978 Monte Verità
1975 Junggesellenmaschinen
1972 documenta 5
1969 „When attitudes become form“
1957 Malende Dichter - dichtende Maler in St. Gallen |
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