In der Gegenwart und am Menschen forschen
Seitenüberschrift: Hochschule Ressort: Rhein-Main-Zeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.2010, Nr. 237, S. 44
Vor 100 Jahren hat der erste deutsche Soziologenkongress in Frankfurt stattgefunden, nun feiert er dort sein Jubiläum. Die Teilnehmer ziehen Bilanz und fragen nach der Zukunft.
Von Eva-Maria Magel
FRANKFURT. Theologie, Mathematik, Philosophie, Geschichte - im Vergleich zu all diesen altehrwürdigen Disziplinen ist die Soziologie immer noch ein Küken. Gerade mal vor 101 Jahren ist die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) gegründet worden, von allerhand Philosophen, Historikern, Sozialpolitikern: "Soziologen" gab es damals noch nicht. Mindestens 2500 von ihnen werden von heute an bis Freitag am Frankfurter Jubiläumskongress der DGS teilnehmen, so zumindest die Zahl der offiziellen Anmeldungen, Nachzügler und Tagesbesucher nicht eingerechnet.
Vor 100 Jahren, am 19. Oktober 1910, hat Georg Simmel im Frankfurter Jügelhaus, damals noch "Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften", den Begrüßungsvortrag für den ersten Kongress der DGS gehalten. Seine "Soziologie der Geselligkeit" hat das Organisationsteam des Jubiläumskongresses mit Ferdinand Tönnies' damaligem Grundsatzvortrag "Wege und Ziele der Soziologie" und Max Webers "Geschäftsbericht", der trotz des Titels ebenfalls grundsätzlich ist, zu einem Nachdruck versammelt: In den Jutetaschen mit dem Kongress-Logo findet das Gründungstrio der deutschen Soziologie ebenso Platz wie ein dickleibiger Band mit den "Abstracts" der Vorträge und Ausstellungen, die zum Teil dem hiesigen Publikum offenstehen.
Nach Ansicht von Martina Löw, Stadtsoziologin an der Technischen Universität Darmstadt und stellvertretende Vorsitzende der DGS, passt das übergreifende Thema der diesjährigen Tagung, "Transnationale Vergesellschaftungen", besonders gut zu Frankfurt: "Die einzige Stadt in Deutschland, über die man wenigstens diskutieren kann, ob sie so etwas wie eine ,global city' ist." Ein Viertel der Frankfurter habe keinen deutschen Pass, eine soziologische Studie im Auftrag der Hertie-Stiftung habe jüngst gleichwohl ein "Wir-Gefühl" der Einwohner festgestellt.
Der Vorsitzende der DGS, Hans Georg Soeffner, glaubt, die durch "Kontaktzwang" entstehenden Ausbildungen von Identitäten innerhalb einer Gesellschaft und über Grenzen hinweg stellten die Frage nach einer "Soziologie der Weltgesellschaft". Schon in seinem Eröffnungsvortrag in der Paulskirche widmete sich Soeffner gestern auch der Zukunft der Soziologie. Als "Korrekturwissenschaft" sei sie nicht dem Zeitgeist verpflichtet. Dass dieser aber in einer an der Gegenwart arbeitenden Disziplin, die den Menschen zum Gegenstand hat, nicht ausgeklammert werden kann, zeigte eine Randbemerkung zur Debatte um Thilo Sarrazin: 1910 habe Max Weber aus soziologischer Perspektive die damals modische Rassetheorie verworfen, hob der Frankfurter Soziologe Tilman Allert hervor. Dass der Jubiläumskongress der DGS wieder in Frankfurt stattfinden solle, hatte Allert schon 2006 vorgeschlagen. Als vor drei Jahren die Planung begann, wurde sein Kollege Klaus Lichtblau zum lokalen Organisator und Kongressleiter. Den "Jahrhundertkongress", wie Lichtblau sagt, unterstützt die Universität mit 60 000 Euro, der Infrastruktur und den Räumen. Der vorerst letzte Frankfurter Kongress 1990 hatte 3000 Besucher - erstmals, nach dem Fall der Mauer, kamen auch ostdeutsche Kollegen. Überhaupt war Frankfurt nach 1910 Schauplatz weiterer historischer DGS-Kongresse: 1946 fand dort der erste nach dem Zweiten Weltkrieg statt; 1968 jener, auf dem sich unter dem Titel "Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft" die Kollegen zerstritten, als die Studentenbewegung Fahrt aufnahm.
Allert und Lichtblau wollen auch auf hiesige Vorgänger aufmerksam machen, die für die Gegenwart fruchtbar seien: Allert hält eine Veranstaltung zum Werk Helmuth Plessners am Freitag in der Villa Clementine, in Wiesbaden, dem Geburtsort Plessners; Lichtblau hat - da die Gastländer der Tagung die Vereinigten Staaten und Frankreich sind - Gottfried Salomon-Delatour in den Mittelpunkt gerückt. "Ich kenne keinen, der diesen Kongress besser personifiziert", so Lichtblau: Frankfurter deutsch-französischer Herkunft, bei Georg Simmel promoviert, Hochschullehrer in Frankfurt, Exil in Amerika, Rückkehr und Lehrer Adornos, Benjamins und vieler anderer.
Auch für den Blick auf die eigene, die Frankfurter Fachgeschichte, erhofft sich Lichtblau von dem Kongress Impulse: Dass bis heute Frankfurt als Hort der Kritischen Theorie und der marxistischen Gesellschaftskritik Adornos und Horkheimers wahrgenommen werde, ist den hiesigen Soziologen Bürde und Segen zugleich. Tilman Allert spricht von einer "Marke", die bis heute sehr gute Studenten nach Frankfurt ziehe; Lichtblau bedauert, dass die vielen Strömungen des Fachs, die allesamt in Frankfurt vertreten, wenn nicht gar aufgebaut worden seien, dadurch nicht wahrgenommen würden: von der ersten Professur 1919 über die Wissenssoziologie bis zur Wirtschaftssoziologie der sechziger Jahre.
Studenten, mögen sie auch der Kritischen Theorie wegen gekommen sein, konnten schon seit dem Sommersemester 2007 bei Lichtblau und der Dozentin Felicia Herrschaft die Geschichte der Frankfurter Soziologie selbst mitschreiben. In einem großangelegten Lehrforschungsprojekt entstanden unter anderem eine Dokumentensammlung im Internet mit Fotos und Analysen der Studenten und ein üppiger Aufsatz-Band "Soziologie in Frankfurt. Eine Zwischenbilanz", der im Juni erschienen ist.
Von heute an bis Dezember ist im Hörsaalzentrum des Campus Westend eine Ausstellung zur Frankfurter Soziologie zu sehen. Sie erzählt die Geschichte eines noch jungen Fachs und seiner vielen Wandlungen. Den "Unschuldsmythos", von dem Soeffner gestern sprach, beleuchtet nicht nur eine Sektion des Kongresses: Auch die Ausstellung zeigt mit interaktiven Dokumenten, wie der Nationalsozialismus Größen wie Adorno und Horkheimer, Salomon-Delatour, Norbert Elias und viele andere ins Exil trieb. Immerhin: In der Fremde wurde manche in Frankfurt entwickelte Theorie weltberühmt - und kam zurück.
Der Jubiläumskongress dauert bis Freitag. Heute Abend um 19 Uhr findet im Hörsaal 6 des Campus Westend eine Vorlesung der Bürgeruniversität statt. Die Ausstellung "Soziologie in Frankfurt am Main 1910-2010" ist im Hörsaalzentrum auf dem Campus Westend bis zum 17. Dezember zu sehen.
Schwarz-weiß-Aufnahmen der Wissenschaft
Soziologie in Frankfurt heißt die Ausstellung, die bis zum 17. Dezember im dritten Stock des Hörsaalzentrums auf dem Campus Westend zu sehen ist. Unter der Leitung von Klaus Lichtblau hat Felicia Herrschaft die Ausstellung kuratiert.
Pünktlich zum Deutschen Soziologentag wird auf dem Campus Westend die Ausstellung "Soziologie in Frankfurt" eröffnet. Sie spannt einen Bogen von der Gründung der Hochschule über die Gründung des Instituts für Sozialforschung bis hin zur Gegenwart.
An dieses Zusammentreffen wusste sich die Fotografin Gisèle Freund gut zu erinnern. Damals habe sie mit Frankfurter Studenten auf den Mann an anderer Stelle des Cafés gedeutet und geflüstert: „Dahinten, das ist der Benjamin.“ Geradezu ehrfürchtig habe sie das gesagt, weil Walter Benjamin zu dieser Zeit doch bereits ein berühmter Literaturkritiker gewesen sei, sich mit einer bestimmten Aura umgeben habe und einfach unnahbar wirkte. Da wusste sie einen anderen Intellektuellen schon für seine Zugänglichkeit zu schätzen: Norbert Elias, zu Beginn der 30er Jahre Karl Mannheims persönlicher Assistent an der Frankfurter Goethe-Universität. Wie Mannheim und Elias musste auch Freund 1933 vor den Nazis fliehen und beendete ihre Arbeit über „die Geschichte der Fotografie im 19. Jahrhundert“ an der Sorbonne in Paris.
An ihr Wirken erinnert jetzt eine Ausstellung, die pünktlich zum Deutschen Soziologentag auf dem Campus Westend eröffnet worden ist. „Soziologie in Frankfurt“, hat Professor Klaus Lichtblau die Schau überschrieben, die einen Bogen spannt von der Gründung der Hochschule, den Stifter des ersten Lehrstuhls für Soziologie, Karl Kotzenberg, über die Gründung des Instituts für Sozialforschung bis hin zur Gegenwart. Ohne das Kapitel über „die zwölf ewigen Jahre“, wie der Historiker Dan Diner die Zeit des Nationalsozialismus genannt hat, auszusparen. Dass die mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Aufnahmen ausgestattete Ausstellung darauf nicht verzichten kann, machte Hans-Georg Soeffner, der Vorsitzende des Deutschen Gesellschaft für Soziologie, zur Eröffnung der Tagung am Montag deutlich: Bislang habe die Soziologie als „unschuldige Wissenschaft“ gegolten, weil doch die meisten Wissenschaftler emigriert oder aber in die innere Emigration gegangen seien. Mit diesen Vorstellungen müsse man allerdings endlich aufräumen.
Die Tagung
Transnationale Vergesellschaftungen ist der Deutsche Soziologentag bis zum 15. Oktober an der Frankfurter Goethe-Uni überschrieben. Vor 100 Jahren nahm die Tagung dieser Wissenschaftler in Frankfurt ihren Anfang. Aus diesem Anlass hatte der berühmte Gelehrte Georg Simmel damals die Stadt am Main als Austragungsort vorgeschlagen.
Ebenso mit manchen Begriffen, die sich das Fach zu eigen gemacht habe. Ob die Soziologie nicht den Kontakt zu denjenigen verloren hat, die sie eigentlich beschreiben will, müsse der Kongress klären. Ebenso wie die Frage, was die Soziologie heute zu leisten habe. Sicherlich dürfe man das Fach nicht als „Zeitgeist-Wissenschaft“ missdeuten. Vielmehr sei die Soziologie gegenwärtig eine „Korrektur-Wissenschaft“, eine Wissenschaft, die sich „gesellschaftliche Zumutungen vornimmt“. Und nach dem Wandel von Befindlichkeiten fragt, setzte die Darmstädter Stadtsoziologin Martina Löw hinzu. Die aktuelle Debatte zur Hertie-Studie über Frankfurt und Rhein-Main mache deutlich, dass es „eine Frankfurt-Verwurzelung in Zeiten transnationaler Vergesellschaftung gibt“, Heimat also nicht mehr zwingend mit dem Bezug auf Traditionen legitimiert werde. Insofern sei Frankfurt auch genau der richtige Ort für diesen Soziologentag, sagte Löw.
Kein Werturteilsstreit beim SoziologentagRessort: Natur und Wissenschaft Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.10.2010, Nr. 246, S. N3
Fragmentiertes Bewundern sozialer Vielfalt: Die Disziplin zerfällt in einzelne Studien, oft zu lokalen Phänomenen, und ein professionelles Selbstbewusstsein ist nur noch schwer zu finden.
Es fing alles mit Streit an. Als die deutschen Soziologen sich am 19. Oktober 1910 in Frankfurt zur ersten Jahrestagung ihres soeben gegründeten Verbandes trafen, war es zunächst Streit ums erste Rederecht. Georg Simmel und Ferdinand Tönnies, die einander nicht leiden konnten, beanspruchten es beide. Max Weber hatte die Lösung: Simmel sprach am Vorabend, passenderweise zur "Soziologie der Geselligkeit", Tönnies eröffnete die offiziellen Sitzungen. Die endeten mit einem Eklat, als Tönnies einen Redner mit Hinweis auf die Satzung der "Deutschen Gesellschaft für Soziologie" (DGS) unterbrach, deren erster Paragraph auf Drängen des werturteilsempfindlichen Weber jede politische Propaganda in Vorträgen untersagte.
Beim diesjährigen Jubiläumskongress der Soziologen in Frankfurt, der unter dem Titel "Transnationale Vergesellschaftung" stattfand, erinnerte Rainer M. Lepsius, der Doyen des Faches, auf heiter-belehrende und sehr gewinnende Weise an diese Gründungsumstände der Fachgesellschaft. Man hätte ihn danach, wenn es nicht der Respekt verböte, am liebsten durch ihre heutigen Sitzungen geschickt. Mit einem Werturteilsmessgerät, einem Propagandameter. Denn die Lage der Disziplin, die sich während eines solchen Riesenkongresses mit Hunderten von Vorträgen gut zeigt, ist durch ihren Abstand von solchen älteren Einstellungen gekennzeichnet.
Da sind zum einen die vielen Werturteilsfreudigen. Ob es um Migranten geht, um Hartz IV-Empfänger oder um Jugendliche - die Soziologie zeigt sich als daumendrückende Disziplin. Der Witz, den der amerikanische Soziologe Michael Burawoy machte, in seiner Heimat verwechselten Politiker Soziologie mit Sozialismus oder Sozialhilfe, war insofern ungewollt komisch: denn hier tun das viele Soziologen selber. Stefan Lessenich (Jena) etwa steuerte zu einer Vortragsrunde mit kritischen Krisendiagnosen eine Auflistung aller Vorurteile bei, die der "Bourgeois" heute gegenüber der "Versorgungsklasse" habe. Gemeint sind Zuwendungsempfänger aus den Wohlfahrtssystemen, die sich jetzt also schon als Klasse angesprochen fühlen dürfen. Lessenich machte sich zum Verteidiger dieser bunten Gruppe - Rentner, Kranke, Mütter, Väter, Arbeitslose, Sonderforschungsbereiche - gegenüber dem Ansinnen, man könne auch selbst etwas für sein Lebensglück tun. Schon die Riester-Rente hielt er für einen abgefeimten neoliberalen Schachzug, weil nun jeder, der nicht fürs Alter spare, Vorwürfen ausgesetzt sei. Geforscht haben muss man für solche Urteile nicht, es sind politische.
Mitunter schlägt die Wertungsfreude auch in die Methode. Dann kommt es beispielsweise zu Vorträgen über Finanzmarktakteure, in denen mitgeteilt wird, dass es sich dabei um eine Art Mafia handelt. Kann sein, oder auch nicht. Die Empirie dazu bestand weitgehend aus Zeitungsartikeln. Jürgen Beyer (Hamburg) plauderte über die Immobilienkrise und Betrügereien im Investmentbanking, als wisse er, wer sich da mit wem in welcher Absicht zum Abendessen getroffen hat. Die These seines Vortrags war, der Markt sei gar nicht so anonym, wie immer getan werde. Dem kann man beipflichten. Doch ist die Finanzklatschpresse als Beweisgrundlage dafür wenig informativ, weil sie als Presse natürlich gern personalisiert. Und da man für einen Betrug auch Betrogene braucht, lief die Krisenerklärung auf "Dummheit" hinaus. Wie eine Bank oder Börse sozial funktioniert, wird man von einer Soziologie, die es schon aus der Zeitung weiß, nicht erfahren.
Legenden der Globalisierung
Es war in der gleichen Sitzung Renate Mayntz (Köln) vorbehalten, auf die immensen Schwierigkeiten hinzuweisen, die Banken und Börsen selber damit haben, sich transparent zu sein. Krisenerklärungen aus unangenehmen Eigenschaften des Personals verböten sich, weil nicht einmal die Eigenschaften der Krise begriffen seien. Ähnlich aufklärend wirkte der - allerdings schon publizierte - Vortrag von Michael Hartmann (Darmstadt), der die Legende von den kosmopolitischen Eliten im Unterschied zum lokalen Normalvolk attackierte.
Hartmann hat sich die Herkunft von Vorstandsmitgliedern der größten Unternehmen angeschaut und ist weltweit auf denkbar wenig Auslandserfahrung gestoßen. Das Spitzenpersonal macht nach wie vor nationale Karrieren, die entweder vom Bildungssystem oder dem Firmenstil (Hauskarriere) geprägt sind. Offen blieb dabei, ob der Kosmopolitismus der Eliten nicht mehr als eine Frage der Herkunft eine ihrer mentalen Angleichung an ein weltweites Spitzenkraftgerede ist, das auf Dienstreisen und durch das Anhören von Vorträgen erworben wird. In diesem Sinne war der Vortrag von Craig Calhoun (New York) zu verstehen, der nun seinerseits nicht mit Wertaburteilungen des Jetsets, jedenfalls des nichtsoziologischen Jetsets sparte.
Oder nehmen wir das Thema ethnischer und religiöser Konflikte. Ein voller Saal hörte jeweils Ferdinand Sutterlüthy (Frankfurt) und Janine Dahinden (Neuchatel) zu, die Studien zu Vorurteilen gegenüber Muslimen vortrugen. Die Deutschen, so Sutterlüty, redeten dabei so, als seien sie untereinander verwandt und müssten sich als Verwandtschaftsgruppe gegen Türken behaupten. In der Studie aus Neuchatel waren Jugendliche unter anderem gefragt worden, wie sie es fänden, wenn ihre Geschwister einen muslimischen Partner heiraten würden. Die Antwortmöglichkeit "kommt auf die Person an" gab es nicht, also fanden es die Schweizer pauschal gar nicht weiter bedenklich. Nur dass sie eine Heirat mit einem Italiener oder Juden pauschal noch unbedenklicher fanden, was wiederum die Studie bedenklich fand.
In beiden Fällen kam aber weder bei den Autoren noch im Publikum auch nur die Frage auf, wie es denn umgekehrt mit den mythischen Verwandtschaftsgefühlen und der Unbedenklichkeitserklärung für Heiraten über die Religionsgrenze hinweg bei den muslimischen Jugendlichen aussieht. Das Vorurteil scheint in Kraft, dass Minderheiten selber keine Vorurteile haben und dass man nicht einmal die Gegenprobe machen muss. Die Schweizer Studie zeigt überdies, wie man "ethnisches Kategorisieren" in die Leute geradezu hineinfragen kann. Was soll man denn daraus schließen, wenn einer allen Ernstes ankreuzt, er fände es "sehr gut", wenn sein Bruder eine Italienerin heiratete? Untersuchungen dieses Typs sollten unbedingt auch noch ermitteln, ob es die Befragten doppelt so gut fänden, wenn der Bruder zwei Italienerinnen heiratet.
Sagen von Graffitisprayern
Neben der Wertungsfreude und dem Verwechseln von Methode mit sozialer Wirklichkeit ist ein drittes Merkmal der gegenwärtigen Soziologie ihr eigenartiges Verhältnis zur Vergangenheit des Faches. Pierre Bourdieu hat einst gefordert, es solle sich nur zu Wort melden, wer sich das kollektive Wissen der Disziplin angeeignet habe. Von einem solchen Bewusstsein erreichter Standards ist die Soziologie einerseits weit entfernt, weil zum Vortrag auf Soziologentagen inzwischen praktisch jeder zugelassen wird, der an einer Qualifikationsarbeit sitzt. Darin läge gar kein Problem, wenn nicht die besinnungslose Graduiertenförderung dazu geführt hätte, dass Hunderte junger Leute, die sich mit fast wahllos ergriffenen Spezialthemen befassen, die sie für die ihren halten, ohne jeden Bezug zu allgemeinen Forschungsfragen einfach nur Kenntnisse anhäufen.
Die Soziologie zeigt sich hier als Parasit der sozialen Differenzierung. Jedes Submilieu, jedes Ding und jede Handlungsart erhält inzwischen einen eigenen Soziologen, der über sie schreibt. Entsprechend kann man auf Soziologentagen Aberdutzende von Vorträgen mit vollkommen von aller anderen Soziologie isolierten Studien hören - etwa über Graffitisprayer in Sachsen und dem Elsass, die Geschichte des Crashtests, das Museum am Checkpoint Charlie, die Fans der Musikrichtung "Hardcore" oder "Transnationale Online-Kommunikation über den Fall John Demjanjuk".
Hans-Georg Soeffner (Essen) hatte in seinem Eröffnungsvortrag völlig zu Recht betont, wie wenig von einerSoziologie zu halten wäre, die zur Kulturwissenschaft würde, also zum theorielosen und fragmentierten Bewundern sozialer oder historischer Komplexität. Was überdies aus Leuten werden soll, die fünf Jahre ihres Lebens auf die Erschließung einer fast problemlosen Empirie verwenden, mit der danach nie wieder jemand etwas anfängt, ist eine verantwortungsloserweise ungestellt bleibende Frage.
Auch die Frage nach den Standards richtet sich nicht an den Nachwuchs. Sondern an die Arrivierten, die jeder Diskussion, worin Standards bestehen könnten, aus dem Weg gehen. Es wird praktisch nichts mehr negiert, außer dem Neoliberalismus, aber der war ja recht eigentlich auch kein soziologischer Theorievorschlag. Deshalb kann auch so gut wie alles noch einmal diskutiert werden. Es gibt in diesem Fach derzeit keinen Stand der Erkenntnis. Die Streitlust der Altvorderen wirkt insofern tatsächlich überholt. Denn wozu streiten, wenn schon aus Gründen der Inklusion am Ende doch alles durchgeht? Die Tagung über transnationale Vergesellschaftung war insofern auch eine über disziplinäre Vergemeinschaftung.
JÜRGEN KAUBE
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Basar der menschlichen DingeAuf dem Soziologentag ging es um die Geschichte der eigenen Zunft: Das 100-jährige Bestehen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie musste gefeiert werden. Aber auch die transmortale Vergesellschaftung in vampiresken Milieus war ein Thema.
So bunt wie auf dem Nmache Bazar in Nepal ging es auch beim Frankfurter Soziologentag zu.
Soziologie als Wissenschaft befindet sich in einer andauernden Verlegenheit. Ihr zentrales Thema, die Gesellschaft, bleibt unfassbar. Doch muss das noch lange kein Grund zur Entmutigung sein. Das jedenfalls ist der bleibende Eindruck des gestern zu Ende gegangenen Soziologentages in Frankfurt. Denn auch wenn die Soziologie einen allgemeinen Begriff der Gesellschaft vermissen lässt und damit ihre wissenschaftliche Methodik sehr frei zu handhaben gezwungen ist, nutzt sie dieses Defizit für eine erstaunliche Vielfalt. Wohl keine andere Wissenschaft interessiert sich so sehr für alles wie die Soziologie. Kein Wunder also, dass es in Frankfurt wie auf einem Basar der menschlichen Dinge zuging.
Bei der Frage, was die Gesellschaft denn nun zusammenhalte, mahnte auch Hans-Georg Soeffner (Konstanz) zur Vorsicht. Soziologie sei mitnichten jene Leitwissenschaft, als die sie sich im 19. Jahrhundert und zuletzt in den 60er Jahren noch empfahl. Der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) wollte in seiner Eröffnungsrede, abgedruckt in der FR vom 12.10., allenfalls von einer Korrekturwissenschaft wissen, die in ihren Beobachtungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf Alternativen zum – mitunter sehr schlechten – Bestehenden verweise. Ansonsten gelte nach den totalitären Verlockungen, denen die deutsche Soziologie insbesondere im Nationalsozialismus erlegen war, politische Zurückhaltung.
Nichts Menschliches ist fremd
Erwartungsgemäß ging es auf dem Soziologentag um die Geschichte der eigenen Zunft. Schließlich musste das 100-jährige Bestehen der DGS gefeiert werden. Zahlreiche Veranstaltungen widmeten sich also den „Klassikern der Soziologie“, den „Pionieren, Vorläufern und Zeitgenossen“ und auch noch der selbstreferenziellen Frage, was einen Klassiker überhaupt zu einem solchen mache. Fehlen durften in Frankfurt selbstverständlich nicht die „Kritische Theorie als Zeit- und Krisendiagnose“ und die „Soziologie als Schlüsseldisziplin der frühen Bundesrepublik“ – gefolgt von der bangen Frage, ob der Bologna-Prozess den Hochschulen eine „bessere Lehre in der Soziologie“ noch ermögliche.
Dem Soziologen ist nichts Menschliches fremd, vor allem die eigene Disziplin nicht. Eigentlich aber stand das Frankfurter Zunfttreffen unter dem Motto „Transnationale Vergesellschaftungen“ und hatte sich damit auf gut Soziologisch nur unscharf auf einen bestimmten Fokus festgelegt. Vergesellschaftung, nun gut, darum geht es in der Soziologie immer, und transnational, na ja, klingt irgendwie nach international und also zeitgemäß. In dieses begriffliche Umfeld passten auch Vorträge wie die überaus anregenden Ausführungen Thomas Bohns (Gießen) zur „transmortalen Vergesellschaftung“ am Beispiel des Vampirs Arnold Paolo im östlichen Habsburger Reich des frühen 18. Jahrhunderts.
Es geht geschmeidig zu in der Soziologie. Die Klassenfrage ist den „komplexen Ungleichheiten“ gewichen, weil, was früher als Nebenwiderspruch galt, längst zum analytischen Bestand gehört, etwa Diskriminierung wegen des Geschlechts oder der ethnischen Zugehörigkeit. Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben stellen sich der Soziologie auf vielen Feldern. Der Frankfurter Soziologiebasar bot von Weltklima und Riester-Rente über Facebook und Kochsendungen bis zum „Gefühlskapitalismus der Banken“ alles. Die Künstlerin und Soziologin Amalia Barboza (Frankfurt) stellte uns sogar „soziologische Kunst“ vor.
Irgendwie ist alles soziologisch. Die Zeit der großen Entwürfe scheint indes vorbei. Von der Klassengesellschaft war in Frankfurt kaum noch die Rede, auch die starken Thesen von der Risikogesellschaft, Erlebnisgesellschaft, Spaßgesellschaft oder Giergesellschaft suchte man vergebens. Stattdessen haben sich die Bindestrichsoziologien, heißen sie nun Religions-, Wissens-, Rechts-, Arbeits-, Familien-, Marken-, Elite-, Musik-, Raum- und Zeit- und haste-nicht-gesehen-Soziologie – haben sich diverse Sonderunternehmen in eine kaum noch zu überblickende Vielfalt zersplittert. Pluraler dürfte kaum ein anderes Fach sein. Die Grenzen zu Marktforschung und Politikberatung sind fließend.
Doch gibt es immer noch übergreifende Fragestellungen: Wie kommt der Soziologe eigentlich an sein empirisches Material? Natalja Manold (Mannheim) stellte ihre Erkenntnisse zu „Antwortskalen in sozialwissenschaftlichen Umfragen“ vor. Auch ein Fragebogen will erst einmal gestaltet sein: Operiert er mit Zahlenskalen von 1 bis 6, Ja-nein-Oppositionen oder Antwortfeldern von „stimme zu“ bis „lehne ab“, mit vielen oder wenigen Kategorien, mit Symbolen oder Farben, Schattierungen im Layout oder gar Bildern? Und wie vermeidet man, dass Menschen in unseren Kulturkreisen zu den Antworten tendieren, die sich auf dem Zettel weiter oben und links befinden?
Zahlen, Daten, Fakten: In der Anwendung entwickelte so manche Präsentation ihren eigenen Charme. Hilke Brockmann (Bremen) machte sich auf die Suche nach dem „Glück der Migranten“ und landete beim Fußballer Mesut Özil. Dabei türmte sie imposante Nummerngebirge auf, verwies auf signifikante Abweichungen (rot) und Kurvenverläufe (blau). Doch sind Migranten, wenn sie sich mit den Zurückgebliebenen in der alten Heimat vergleichen, nun glücklicher, weil es ihnen materiell besser geht, oder leiden sie an den ihnen weniger vertrauten Lebensverhältnissen? Antwort: Je länger sie in ihrem Zielland leben, desto bedeutender wird der soziale Vergleich in der neuen Heimat.
Alles wird gut
Alles nur eine Frage der Gewöhnung? Das sagt auch der gesunde Menschenverstand. Dabei könnte die Migrantenforschung nicht zuletzt vor dem Hintergrund der gegenwärtigen, weitgehend empiriefreien, dafür aber umso ressentiment-freudigeren Debatte einen wichtigen, versachlichenden Beitrag leisten. Fremdheit als soziologisches Problem: In Frankfurt zeichnete sich ein zunehmendes Interesse für die „Exklusions- und Inklusionsprobleme im Migrantenkontext“ ab. Und zwar in deutlicher Distanz zu den eher postkolonialistischen oder internationalistischen (marxistischen) Ansätzen; bevorzugt wurde eher das Instrumentarium der empirischen Alltagsforschung.
Wer mehr sieht, hat mehr Recht – zurück in die pralle Lebenswelt! Vor allem wissen wir immer noch viel zu wenig über unsere Parallelgesellschaften. Mit seiner „Soziologie der Zahlen“ spürte Herbert Kalthoff (Mainz) dem „Sinn des ökonomischen Rechnens“ nach, so wie er sich in Befragungen von Finanzmathematikern und Fondsmanagern ermitteln ließ. Ja, in welchem Zimmer arbeitet eigentlich der Cashflow einer Bank? Warum vertrauen wir dem, was nur als Zahl existiert? Und was, wenn der Sinn des unternehmerischen Rechnens das Nicht-Rechnen wäre? Kalthoffs Vortrag war eine Einführung in die paradoxen Denk-, Zahlen- und Wertesysteme neoliberaler Akteursherrlichkeit.
Von solcher Feldforschung wünscht man sich mehr. Denn sie macht aus der Not eine Tugend: Wenn das Problem der Unschärfe in der Soziologie daher rührt, dass sie Teil der Gesellschaft ist, die sie beschreibt, dann bleibt nur: genau hinschauen! Ein Teil des zu beschreibenden Problems zu sein, begründet auch, warum man sich etwas schwerer mit den soziologischen Großentwürfen tun sollte. Aber keine Sorge, die werden schon wieder kommen, wenn es mit der transnationalen Vergesellschaftung durch neoliberale Regime – Staaten wie Konzerne – so weitergeht. Im Jahre 1922 stellte die DGS ihr drittes Treffen unter dieses Motto: „Das Wesen der Revolution“. Mensch, ist das lange her!
www.fr-online.de/kultur/debatte/basar-der-menschlichen-dinge/-/1473340/4748160/-/index.html
Rassentheorien beim "Ersten Deutschen Soziologentag" Verdrängte Vielfalt
Kommentar von Michael Bodemann, in die taz, 10.10.2010
Etwa 50 Herren - Damen waren offenbar nicht dabei - kamen vor hundert Jahren, am 21. Oktober 1910, in Frankfurt am Main zum "Ersten Deutschen Soziologentag" zusammen. Er sollte helfen, die Agenda der neuen Disziplin auszuloten. Das Ziel war durch Max Weber und dessen programmatische, gegen die "Kathedersozialisten" gewandten Schriften bereits vorgegeben, nämlich einen eher kosmopolitisch orientierten Marxismus von einer national orientierten, bürgerlichen Soziologie fernzuhalten. Oder, in Werner Sombarts späteren Worten: eine "undeutsche", "wurzellose" und "jüdisch beherrschte" Bewegung aus dem neuen Fach auszuschließen.
Worüber aber sollte die Zunft angesichts einer massiv erstarkenden Arbeiterbewegung dann diskutieren? Die Lösung war schnell gefunden: über die damals populäre Rassenhygiene mit ihrem ausdifferenzierten Korpus an eugenischen Theorien und Rassenideologemen. Diese Theorien wurden gefördert durch die neue koloniale Erfahrung mit "inferioren" Völkern, aber auch dem Zusammenbruch der alten Feudaleliten in Deutschland und der Formierung einer vermeintlich chaotischen, moralisch suspekten und ethnokulturell diversen Arbeiterklasse in den expandierenden Städten; auch die deutsche "Entdeckung" des ethnisch heterogenen Amerika spielte eine Rolle.
Die Rassentheorie diente dazu, von der Klassenfrage abzulenken und sie durch die Frage nach dem Volk und dem "Volkskörper" zu ersetzen. Dies wurde durch Sombart spätestens auf dem Zweiten Soziologentag 1912 unverblümt ausgesprochen: "Aber wir wollen doch nicht das große augenblickliche Verdienst der Rassentheorie unterschätzen, dass sie uns von der Alleinherrschaft der materialistischen Geschichtsauffassung befreit, uns endlich wieder einen neuen Gesichtspunkt gegeben hat."
Gesellschaft als Organismus
Die heftigen Debatten auf den ersten beiden Soziologentagen in den Jahren 1910 und 1912 sind ein gutes Indiz dafür, wo die sich herausbildende deutsche Soziologie damals stand. Einer der führenden Rassenbiologen seiner Zeit, Alfred Ploetz, durfte einen langen Vortrag präsentierten: Menschliche Gesellschaften sollten als "ganzheitliche Organismen" gesehen werden, so seine These, den Bienen- und Ameisenkolonien nicht unähnlich. Tönnies fasste die "gegensätzliche Tendenz" dieses "Gesellschaftskörpers" bündig zusammen: "Einmal die Tendenz, der Gesellschaft zu helfen und also die Schwachen zu unterstützen; andrerseits aber das Interesse der Rasse, der biologischen Dauereinheit, sich zu erhalten." Letzteres Interesse fordere die Ausmerzung der Schwachen, während die Gesellschaft die Schwachen erhalten wolle.
Dem Vortrag des Rassenbiologen schlug wenig Ablehnung entgegen, von Empörung konnte keine Rede sein. Im Gegenteil: Sympathisanten der Rassenbiologie forderten die Soziologie auf, Phänomene wie Landstreicherei, Betteln, Prostitution, sexuelle Perversion und Jugendkriminalität zu erklären. Umweltbezogene Erklärungen wurden als "mit der Sozialdemokratie verbunden" abqualifiziert.
Flucht in die "Negerfrage"
Erstaunlicherweise fand in dieser Debatte weder der mögliche genetische oder kulturelle Charakter der deutschen Arbeiterklasse Erwähnung, noch kam das Phänomen "des Fremden" oder "des Juden" zur Sprache. In den Augen der Mehrzahl sowohl der versammelten Soziologen als auch der Rassenbiologen schien Deutschland offenbar ethnisch homogen: die Dänen und Friesen im Norden, Belgier und Elsässer im Westen sowie die Immigration von Osteuropäern und Ostjuden wurden ignoriert. Stattdessen wurde die Debatte auf ein sichereres und exotischeres Terrain verschoben: die Vereinigten Staaten und die dortige "Negerfrage". Ploetz meinte, die Schwarzen in den USA würden "ausgeschlossen aufgrund ihrer Inferiorität im geistigen und sittlichen Sinne" - ein Gedanke, den Max Weber verwarf.
Der zweite Soziologentag befasste sich auf Vorschlag von Ferdinand Tönnies mit den "Begriffen von Volk und Nation mit Bezug auf Rasse, Staat und Sprache". Werner Sombart und auch Max Weber hatten erkannt, dass die jüdische Frage dabei ein wichtiges Thema war. Doch diese Frage, ganz zu schweigen von der Frage des Antisemitismus in Deutschland, wurde auf den Soziologentagen vor dem Ersten Weltkrieg praktisch nie thematisiert.
Was macht eine Nation aus?
Bemerkenswert war am zweiten Soziologentag von 1912 vielmehr die klassifikatorische Dürre und Lustlosigkeit der Beiträge. Trotz der virulenten Nationalismen, die zwei Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs überall in Europa grassierten, schien sich das Gros der Soziologen vor allem für das Thema Rasse zu interessieren, während die Debatte zu Nation, Ethnos und Rasse eine Idee des Soziologentriumvirats Weber, Tönnies und Sombart gewesen zu sein scheint. Erst auf dem letzten Soziologentag vor dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1930 und unter den Vorzeichen des ansteigenden Faschismus und Antisemitismus kam wieder ein ethnonationales Thema auf die Tagesordnung: das der "deutschen Stämme" wie der Bayern oder der Sachsen. Dieses Panel aber versank in rassisch-germanischen Diskursen und schloss nichtdeutsche Minoritäten aus.
Im Vergleich zur frühen amerikanischen Soziologie widmete sich die deutsche Soziologie kaum den Fragen nach Ethnizität und Nation. Und die Sozialisten wiederum waren, von wenigen Ausnahmen abgesehen, obsessiv internationalistisch orientiert und nicht in der Lage, die Bedeutung ethnonationaler Identitäten zu erkennen. Die deutsche Soziologie war somit völlig unvorbereitet auf die nationale Raserei, die mit Beginn des Ersten Weltkrieges losbrach, und auf den wachsenden Antisemitismus und das Aufkommen des Faschismus danach. Selbst noch Jahrzehnte nach 1945 war sie nicht in der Lage, sich mit Migration und Ethnizität zu beschäftigen: Es fand sich keine intellektuelle Tradition, auf die sie hätte aufbauen können.
Heute kehren kulturalisierte Rasse-Ideen in die Debatte zurück, die Klassenlage jenseits des Kopftuchs wird dabei wieder unter den Teppich gekehrt. Wenig Fortschritt also seit 1910.
Michal Bodemann
ist Professor für Soziologie an der University of Toronto, er lebt in Kanada und Berlin. Von ihm und Micha Brumlik erschien soeben: "Juden in Deutschland, Deutschland in den Juden" (Wallstein). |
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