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Interview mit Tilman Zülch, GfbV



Tilman Zülch

Tilman Zülch ist einer der profiliertesten Vertreter der deutschen Menschenrechts-Bewegung und Generalsekretär der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ (GfbV). Tilman Zülch fordert nachdrücklich einen Truppeneinsatz in der westsudanesischen Region Darfur.

Tilman Zülch hat im Jahr 1945 als sechsjähriger Junge selbst Flucht und Vertreibung in damaligen deutschen Ostgebieten erlebt. Er gründete 1968 mit Klaus Guerke die „Aktion Biafra-Hilfe“, aus der später die GfbV entstand. Das Gespräch fand am 20. Juli 2004 in Göttingen, dem Sitz der GfbV statt. GfbV

 

 

Felicia Herrschaft: In welchen Zusammenhängen sehen Sie den Konflikt im Westsudan?

 

Tilman Zülch: Aus der Sicht der GfbV ist der Konflikt eine Verlängerung oder ein Wiederaufleben des jahrzehntelangen Krieges zwischen Nord und –Südsudan.

 

Felicia Herrschaft: Und wie könnte man diese Entwicklung beschreiben ?

 

Tilman Zülch: Die Bevölkerung des Südsudans kann mit dem Arabismus nichts anfangen, sie ist zu 95 Prozent christlich oder animistisch, und wird also vom Islam kaum erfasst. Sie steht diesem auch aufgrund historischer Erfahrung eher ablehnend gegenüber. Auf den Konflikt, der sich daraus ergab, waren wenige vorbereitet. Viele waren ebenso erstaunt, als sich plötzlich auch in den Nubabergen ein Krieg gegen Khartum entwickelte (1983-1997, 1, 5 Millionen Opfer). Diese Region von der Größe der Schweiz ist ethnisch nur locker mit dem Südsudan verbunden und ansonsten umgeben von arabischsprachigen Regionen. Sie wird bewohnt von ungefähr 2 Millionen Menschen, die 50 verschiedenen schwarzafrikanischen Ethnien angehören.

Der Nordsudan ist arabisch-islamisch und die Regierung extrem fundamentalistisch. In den Nubabergen wurden vor einigen Jahren plötzlich furchtbare Verbrechen begangen: Es wurden Konzentrationslager eingerichtet, Lager für Frauen, Menschen verkauft, und bestimmte Großfamilien aus Khartum besetzten diese fruchtbaren Landschaften, um dort großagrarische Projekte voranzutreiben. Dagegen wehrten sich die Nuba militärisch und verbanden sich mit den Südsudanesen. Inzwischen sind etwa 24.000 Nuba zu der sudanesischen Armee im Südsudan übergelaufen, dem südsudanesischen Widerstand, quasi der Befreiungsbewegung.

 

 

Im Westsudan ist nur etwa 20 Prozent der Bevölkerung arabischsprachig, und dieser Teil besteht eigentlich auch aus nicht-arabischen, schwarzafrikanischen Völkern, die muslimisch sind. Die fundamentalistische Regierung nimmt den Islam im Westsudan nicht ernst. Deshalb wurden sowohl im Westsudan als auch im Nubaland Moscheen vielfach zerstört - denn auch mehr als die Hälfte der Nubas sind muslimisch.

Im Westsudan ist es auch ein Konflikt, in dem es um Wasser und Land geht. Er stellt sich aber sofort auch dar als Konflikt zwischen arabischsprachiger Nomadenbevölkerung gegen die schwarzafrikanischen Völker. Und genau jene sudanesische Regierung hat ihre Hand im Spiel, die erst gerade auf Druck der USA einem Friedensabkommen mit dem Südsudan zugestimmt hat.

 

Natürlich drängen sich da Befürchtungen auf: Wie ernst war der Friedensschluss mit dem Südsudan zu nehmen, die zugesicherte Selbstregierung, wenn dasselbe im Westsudan wieder passiert? Bei Massenvertreibungen wird dann auch in Kauf genommen, dass die Alten und die Kleinen so etwas in der Regel nicht überleben, weil die hygienischen Bedingungen unerträglich sind, Krankheiten ausbrechen, kein Wasser mehr da ist und keine anständige Ernährung. Wenn man das dann alles zusammen nimmt, dann summiert sich das zu Völkermord, zu Genozid. Und das werfen wir ja jetzt diesem sudanesischen Regime vor !

 

WAS MUSS GEMACHT WERDEN?

 

Tilman Zülch: Vor wenigen Monaten jährte sich der Völkermord in Ruanda zum zehnten Mal, und alle beklagten, dass keiner seinerzeit militärisch interveniert habe. Auch die vielen, lieben, freundlichen Journalisten klagten. Andererseits nun gibt es ja viele militärische Interventionen, die für viele abschreckend wirken: Im Irak kam sie anderthalb Jahrzehnte zu spät, weil der Völkermord ja bereits geschehen war. In Bosnien und im Kosovo wird die Zivilbevölkerung nicht wirklich konsequent geschützt: Im Kosovo sind es die Minderheiten, und in Bosnien können durch die Teilung des Landes die eigentlichen Opfer des Genozid nicht zurückkehren - so weit sie überlebt haben. In Afghanistan kennen wir wiederum die Probleme mit Drogen und den bewaffneten Stammesführern. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, und dabei möchte ich mich auf Golo Mann beziehen, der gesagt hat: Wenn es denn Völkermord ist, wenn es denn wirklich so ist, das Menschen massenweise sterben, dann muss auf jeden Fall jemand intervenieren, der militärisch dazu in der Lage ist. Schon allein das Ende des Völkermordes ist eigentlich ein Ziel an sich. Was immer danach passiert, selbst wenn eine Diktatur vor Ort weiterherrscht, dann ist wenigstens das massenweise Morden vorbei. Das wertvollste, was der Mensch hat, ist nun mal sein Leben.

 

DIE GENERÄLE DES 20. JULI HÄTTEN NICHT DEMOKRATIE GEBRACHT, ABER DEN VÖLKERMORD BEENDEN KÖNNEN

 

Das wird ja auch im Zusammenhang mit dem 20. Juli diskutiert. Manche werfen diesen Generälen vor, sie hätten keine Vision für die Nachkriegsdemokratie gehabt. Aber wenn wir den Völkermord an Juden und den vielen anderen NS-Opfern beendet hätten, wäre das ja ein unendlicher Fortschritt gewesen, ein unendlicher Fortschritt. Selbst wenn wir danach ein autoritäres Generalregime gehabt hätten.

Es reicht nicht, dass Politiker hingehen, mit den Tätern verhandeln und ihnen Sanktionen androhen, die dann lange Zeit nicht verwirklicht werden. Was eigentlich passieren müsste, wären Verhandlungen mit einigen schwarzafrikanischen Staaten. Denen sollten Militärmittel gegeben werden und ihnen Begleiter der Vereinten Nationen oder anderer internationaler Organisationen an die Seite gestellt werden. Im Westsudan müssten erst einmal Truppen mit einem harten Mandat landen. Das wäre kein Mandat, um Krieg zu führen, sondern um die Zivilbevölkerung zu schützen und die Täter zu stoppen. Und danach kann man verhandeln, denn dann wäre sicherlich eine Selbstverwaltung für den Westsudan notwendig, wie sie derzeit im Südsudan angestrebt wird ! Außerdem scheint mir die Forderungen der westsudanesischen Widerstandsbewegung Sinn zu machen, den Sudan in eine Föderation zu verwandeln, in dem die verschiedenen Regionen sich selber verwalten. Dann können die einzelnen Regionen auch selbst bestimmen, ob sie arabisch sind oder nicht. Und der Sudan ist nun mal wie die Schweiz ein Nationalitätenstaat, und in der Schweiz können die Deutsch-Schweizer auch nicht beanspruchen, die Französische Schweiz für eine deutsche Region zu erklären. Die einzelnen Regionen bestimmen ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Identität und vor allem ihre Selbstverwaltung. Der Zentralstaat hat dann genau bestimmte, andere Aufgaben.

 

Felicia Herrschaft: Wie schätzen sie die Rolle der Afrikanischen Union ein? Die Organisation hat bereits eine Beobachtertruppe von 300 Mann in den Westsudan geschickt.

 

Tilman Zülch: Die Afrikanische Union, die früher „Organisation für Afrikanische Einheit“ (OAU) hieß, hat eigentlich überall versagt: Beim Völkermord in Ruanda, in Eritrea, im Südsudan und in Biafra. Aber es wäre die Frage, ob nicht beispielsweise die Europäische Union die Intervention finanziert und afrikanische Truppen sie durchführen. Die optimale Lösung wäre, diese Truppen dann von der UNO, der EU, von NGOs und Menschenrechtlern begleiten zu lassen, damit nicht neue Massaker geschehen.

 

Felicia Herrschaft: Wie schätzen Sie die Stellung der arabischen Milizen ein, den Janjawid, die von der sudanesischen Regierung unterstützt werden ?

 

ZÜLCH: Dasselbe Phänomen kennen wir aus Bosnien: Es werden existierende oder neu aufgebaute Milizen zusammengestellt, die die Verbrechen begehen. Die offizielle Armee unterstützt oder toleriert das, sie ermuntert zu den Taten, kann aber nachher sagen: Das sind wir nicht, das sind andere. Was natürlich sehr bequem ist ! In Bosnien steht beispielsweise Arkan für diese Milizen, der Mann, der nachher durch einen Mordanschlag endete. Oder auch Vojislav Seselj, der jetzt in Den Haag vor Gericht steht. Die beiden wurden von Milosevic und Karadzic ermuntert und unterstützt; sie haben sozusagen die Drecksarbeit gemacht, die Vergewaltigungen, die Morde und die Vertreibungen. Das Ganze ist in Darfur zwischen sudanesischer Regierung und Janjawid ähnlich. Angeblich sollen ja schon 1,2 Millionen Menschen geflüchtet sein. Das ist schon ein sehr, sehr großer Teil der Bevölkerung, fast die Hälfte der Dörfer ist zerstört.

 

DARFUR: GROSSMÄCHTE STEHEN WIEDER AUF SEITEN DER TÄTER

 

Felicia Herrschaft: Man hätte also schon im Jahre 2003, als die ersten Konflikte bekannt wurden, präventiv eingreifen müssen ?

 

Tilman Zülch: Da ist ja das Problem, dass so genannte Großmächte wie Frankreich einmal mehr eher auf Seiten des Sudan stehen, als auf Seiten der Opfer. Das war genauso in Ruanda und übrigens sogar in Bosnien der Fall, als Frankreich noch vor einem Jahr die Serben über die geplante Festnahme von Karadzic informierte. Im Fall von Ruanda wurde eine Auffangposition für die Völkermörder der Hutus aufgebaut und mit allen Mitteln versucht, eine Intervention zu verhindern. Es herrscht außerdem die Meinung vor, der Weltsicherheitsrat müsse entschließen, nur dann sei eine Intervention legitim, und ansonsten nicht. Aber dabei sollte man beachten, dass der Weltsicherheitsrat aus Großmächten besteht. Wenn man die amerikanische Terminologie von „Schurkenstaaten“ nicht nur auf Diktaturen, sondern auch auf die Staaten anwenden würde, die hier und da mal Verbrechen begünstigen oder nicht verhindern wollen, hat man im Sicherheitsrat mehrere Schurkenstaaten sitzen. Die kann man sich dann aussuchen: Das sind China, Russland, Großbritannien, Frankreich und die USA. Jeder von denen hat in den vergangenen Jahrzehnten bei ethnischen Säuberungen und Genoziden helfend, absichernd, beratend, unterstützend zur Seite gestanden, sei es aus ökonomischen oder strategischen Gründen. Der eine Staat mehr, der andere weniger.

 

Aber nun, da ja einige dieser Staaten beunruhigt scheinen, relativ beunruhigt, über das was im Sudan passiert, müsste man davon ausgehen können, dass sie sich endlich mal dazu durchringen, für solche Situationen eine permanente Einsatztruppe zusammenzustellen.

Wir haben zwar Fortschritte, was die Rechtsstaatlichkeit der Internationalen Gemeinschaft anbelangt, wie das Tribunal in Den Haag für Ex-Jugoslawien und Bosnien, das Tribunal in Arusha für Ruanda oder die Pläne für ein Tribunal für Kambodscha. Wir haben außerdem den Weltgerichtshof für schlimme Menschenrechtsverletzungen, dessen Zuständigkeit die USA ja bedauerlicherweise bestreiten. Jetzt aber müsste man die Exekutive ausbauen, und dafür wäre eine Interventionsstreitmacht wichtig. Und selbst dann, wenn diese nur in kleinere und schwächere Staaten intervenieren würde, hätte wir dann einen Präzedenzfall für einen spätere Ausweitung und würden so einen Teil der Genozide in den Griff bekommen. Denn die geschehen in kleinen Staaten, in denen Diktatoren oder Gruppen solche Verbrechen begehen, um irgendwelche Vorzüge zu bekommen, wie etwa Land, oder um ihren Nationalismus auf Kosten der kleineren Völker durchzusetzen.

Das hilft jetzt im Sudan natürlich noch nichts, weil sonst sitzen wir ewig da und machen Gedenkveranstaltungen, wie wir sie zur NS-Zeit machen, und wie wir sie inzwischen zu Ruanda machen. Manchmal ist das wirklich pervers und makaber, ich habe an solch einer Veranstaltung teilgenommen, bei der eine Fülle von freundlichen, meist akademischen Intellektuellen und oft linken Persönlichkeiten zusammensaßen, das Geschehen bedauerten und Zeugenaussagen vorgelesen wurden. Ich kannte den Kreis, wo die selben Menschen, als der Völkermord in Ruanda passierte, überwiegend NULL-Interesse hatten für das, was vor sich ging. Und die gehen jetzt auch nicht gerade auf die Strasse für den Westsudan.

 

FRIEDENSFREUNDE: NULL-INTERESSE AN DEN VERBRECHEN IM IRAK

 

Felicia Herrschaft: Gegen den Irak-Krieg gab es ja plötzlich diese Massenmoblisierung. Warum gibt es nicht mehr Proteste gegen einen fortschreitenden Genozid im Westsudan?

 

Tilman Zülch: In Bezug auf den Irak-Krieg können Sie sagen: Als die Kurden mit Giftgas vernichtet wurden - NULL Interesse. Als ein Völkermord an den Kurden passierte – jahrelang NULL Interesse. Als Kuwait überfallen wurde – NULL-Proteste. In dem Augenblick, als Bush senior die internationale Koalition zusammenstellte und Kuwait befreite, gab es einen Riesenprotest. Als Bush senior etwas später die irakischen Schiiten und Kurden zum Widerstand aufforderte, aber sie dann im Stich ließ, indem er seine Truppen stoppte, starben etwa 300.000 Araber aus den südirakischen Sümpfen sowie 40.000 Kurden. In diesem Augenblick riefen wir zu einer Demonstration auf, zu der 8000 Menschen kamen, davon 7.400 Kurden und 300 asyrische Christen. Der klägliche Rest war der Rest von den Millionen, die vorher auf der Strasse demonstriert hatten, nur Wochen vorher.

Jetzt haben wir wieder dasselbe. Saddam Hussein hat sich seither steigern können, vom Jahr 1991 bis heute Tausende zusätzlich umgebracht, für die es keine Demonstrationen und Proteste gab. In dem Augenblick, in dem die Amerikaner losmarschieren, angeblich um Massenvernichtungswaffen sicherzustellen, die wohl nicht existierten, aber immerhin gegen einen Mann, der im Krieg zwischen Irak und Iran etwa 1 Million Iraner auf dem Gewissen hat und 1 Million seiner Bürger, NULL, NULL Proteste. Aber dann wieder (im Frühjahr 2003, Anm.d. Red.) ein wahnsinniges Engagement gegen die USA. Die Friedensfreunde marschierten erst los, als die Amerikaner die Aktion schon beschlossen hatten und sozusagen schon im Anrauschen waren. Da war also überhaupt nichts mehr aufzuhalten. Wir würden uns wünschen, dass mehr Betroffenheit herrschte, wenn die Verbrechen laufen, und dass man dann auf die Straßen geht.

 

 

 

Felicia Herrschaft: Wie erklären Sie sich dann, dass gegen die Handlungen der USA protestiert wird, gerade aus Bewegungen wie ATTAC?

 

Tilman Zülch: Die Politik von Bush ist in mancher Hinsicht eine Karikatur, sehr inspiriert von fundamentalistischen christlichen Kreisen. Die Amerikaner intervenieren und haben wenig Fingerspitzengefühl für die Bedürfnisse der Bevölkerung. Sie lassen zu, dass geplündert wird und tragen ihre Gefechte mit Al-Qaida und anderen Terroristen aus. Aber auf den Schauplätzen bleiben zivile Opfer zurück, die Amerikaner kümmern sich nicht um diese Leute und ziehen sich zurück. Die Folterungen im Gefängnis von Abu Ghraib, in das während der Saddam-Herrschaft an einem Tag mal 4000 Iraker, Kurden und andere deportiert und liquidiert wurden. In diesem Gefängnis foltern dann die Amerikaner Gefangene, noch „gewürzt“ mit schrecklicher sexueller Ausbeutung, und das in einem Land, das ohnehin sehr traditionell ist, was Geschlechterverhältnisse angeht. Das sind Provokationen und Handlungen, die natürlich dann auch ATTAC bestätigen.

 

 

Felicia Herrschaft: Davon konnte aber ATTAC vor dem Krieg auch nichts wissen?

 

Tilman Zülch: Nein, aber das bestätigt im nach hinein. Antiamerikanismus ist im übrigen auch eine Mode. Ich sage den Leuten immer: Es ist gut, amerikanische Vergehen, Verbrechen und Untaten zu kritisieren. Aber tut bitte nicht so, als ob wir in der Bundesrepublik Deutschland in einer blühenden Friedenswelt leben. Bedauerlicherweise begeht Herr Putin einen Genozid in Tschetschenien, und er ist ein enger Verbündeter unseres Bundeskanzlers, der den Bundesnachrichtendienst nach Tschetschenien gesandt hat, als die Stadt Groszny aussah wie Dresden, nämlich in Grund und Boden bombardiert. Aber der BND sollte sich mit den Russen über angeblichen tschetschenischen Terrorismus unterhalten, und nicht über den Bombenterror gegen Groszny, als dort noch tausende Leichen in den Kellern lagen. Gleichzeitig hat die Bundeswehr Verträge für 34 militärische Projekte mit der russischen Armee abgeschlossen. Wenn man das gleichzeitig kritisiert und genauso auch dagegen opponiert, dann hat man mehr Legitimation für seinen Protest, als wenn man nur die eine Seite sieht.

 

VÖLKERMORD: DAS SCHLIMMSTE VERBRECHEN, ZU DEM MENSCHEN FÄHIG SIND

 

Felicia Herrschaft: Um auf den Sudan zurückzukommen: Ein Problem ist, das die Regierung im Sudan mit den Organisationen und den Politikern ein Katz und - Mausspiel betreibt. Wenn Außenminister aus den USA und Deutschland die Region besuchen, verschwinden Camps plötzlich aus „humanitären Gründen“, wie es der sudanesische Außenminister Ismail begründet. Powell sagt, die Flüchtlinge sollen nicht in Camps weiter dahin siechen, sie sollen in ihre Heimat zurückkehren können. Wäre das nicht die beste Hilfe, dass die Hilfsorganisationen dies ermöglichen?

 

Tilman Zülch: Hilfsorganisationen können Paramilitärs nicht daran hindern, die Verbrechen zu begehen. Erfahrungsgemäß fühlen sich die Leute aber in den Flüchtlingslagern besser aufgehoben, weil dort ständig eine gewisse internationale Präsenz ist. In Darfur braucht man aber nicht nur die Hilfsorganisationen, die ja selber geschützt werden müssen, sondern man braucht eine militärische und polizeiliche Truppe, die das Recht hat, gegen das Machtmonopol der verbrecherischen Paramilitärs vorzugehen. Dieses Machtmonopol hat jeder Polizist in Deutschland bei einer Vergewaltigung oder einem Mord. Völkermord ist das schlimmste Verbrechen, zu dem Menschen fähig sind. Wenn dagegen keine internationale Truppe vorgehen darf, dann sind alle Reisen von Politikern und alle Ermahnungen zwar schön, oft auch nett gemeint, aber häufig für die Bevölkerung zu Hause gedacht. Es muss ein ANGEMESSENES REAGIEREN geben, und dieses angemessene Reagieren ist eine Polizei oder Militärtruppe mit entschiedenem Mandat, um die Zivilbevölkerung zu retten. Die Truppe soll nicht als Beobachter fungieren, wie etwa in Bosnien. Dort ging es eher darum, dass die Truppen sich selber schützen. Das war die hauptsächliche Aktivität. Die Truppen werden entsandt, um sich selber zu schützen! Ansonsten machten die allenfalls Striche für die Zahl der Opfer...

 

 

Felicia Herrschaft: Sie hatten vorhin gesagt, sie wollten noch eine Anmerkung zu Golo Mann und der Biafra-Hilfe im Jahr 1968 machen.*

 

Tilman Zülch: Ja, das ist ein Kommentar zu einer Dokumentation, die im Jahr 1968 unter dem Titel „Biafra -Todesurteil für ein Volk“ erschienen ist. Das Buch wurde herausgegeben von mir und dem Medizinstudent Klaus Guerke, der damals die Aktion Biafra-Hilfe mitgründete, aus der dann zwei Jahre später die „Gesellschaft für bedrohte Völker“ entstand. Die „Aktion Biafra-Hilfe“ wurde ins Leben gerufen, als die Studentenbewegung sich eigentlich dem Schrecken von Biafra entzog, 10.000 tote Kinder pro Tag im Juli ´68. Der SDS erklärte das zum „Nebenwiderspruch“, was dann zwei Studenten aus der Studentenbewegung veranlasste, gemeinsam mit vielen Menschen aus der Bevölkerung die „Aktion Biafra-Hilfe“ zu gründen. Sie wollten humanitäre Hilfe leisten und gegen die britischen sowie sowjetischen Waffenlieferungen protestieren. Der Verfasser des Kommentars, Golo Mann, ist ja als deutscher Historiker und Sohn von Thomas Mann bekannt.

 

GOLO MANN: „ES GILT NUR EINES: HILFE“

 

Zunächst dankt Golo Mann den jungen Deutschen, die die „Aktion Biafra-Hilfe“ gründeten und die Dokumente zusammenstellten. „Ich könnte mir vorstellen, dass sie es nicht leicht hatten, zumal unter ihren Kommilitonen. Wer nur von Revolution träumt, macht sich nicht viel aus humanitärer Hilfe. Ein Krieg, in dem englische Imperialisten und russische Kommunisten am gleichen Tau des Verbrechens ziehen, in dem eine ehemalige Kolonie um die angebliche Einheit ihres Staates kämpft, gegen einen Stamm, der nicht einmal sozialistisch ist, das interessiert nicht, darüber steht bei Lenin nichts drin.“ So weit der Kommentar zu dieser doch sehr doktrinären Studentenbewegung. „Aber Situationen gibt es, da nützt keine Theorie, da schadet alle Theorie, da soll man alles verbogene Kunstdenken zum Teufel schicken. Wo Millionen Menschen vom Hungertod bedroht sind, gilt nur eines: HILFE. Kommt sie diesmal, dann wird sie später anderswo wiederholt werden, kommt sie diesmal nicht, dann kommt sie nie.“

Und das finde ich sehr entscheidend: Das verbogene Kunstdenken, das uns mit irgendwelchen Theorien, Ideologien, Ressentiments, auch Unwissen über eine Region dazu bringt, solche Sätze zu sagen: Das muss mich nicht interessieren. Da darf man nicht intervenieren. Die schlagen eben aufeinander ein. Das ist immer so gewesen, und das wird auch so bleiben. Das hat keinen Sinn....

Golo Mann wendet sich dann in einem Appell an die Nordamerikanische Union, aber eigentlich ist es ein Appell, der sich an uns alle richtet, und an alle Regierungen: Er kritisiert, dass die USA für das blutige Phantom in Vietnam so viel tun und dabei selbst Verbrechen begehen. Aber dort, wo ein Volk an Hunger und an vertreibungsbedingten, situationsbedingten, furchtbaren Krankheiten massenweise stirbt, da unterlässt die USA jede Intervention. Zum Schluss waren es fast 2 Millionen Menschen, die in Biafra gestorben sind. Und dann sagt er provokativ: „Ein paar Dutzend amerikanischer Transportflugzeuge von Jägern geschützt, ein paar Hundert amerikanischer Lkw’s, geführt von einer Panzerbrigade, hätten den Spuk nigerianischen Widerstandes weggeblasen. Sie hätten die zum Tode Verurteilten gerettet, sie hätten Beifall und jubelnden Dank der Menschheit gefunden, hätten eine neue und bessere Epoche der Weltgeschichte begonnen. Es darf keine Gelassenheit sein, ehe nicht etwas in dieser Art geschieht.“

 

Felicia Herrschaft: Vielen Dank für das Gespräch.

 

GfbV www.gfbv.de

 

* Anmerkung: Das Buch „BIAFRA – Todesurteil für ein Volk“ erschien 1968 im Berliner Lettner Verlag der Evangelischen Kirche. Ein Jahr später, 1969, erschien es noch einmal unter dem Titel „Soll Biafra überleben?“, in erweiterter Form mit vielen zusätzlichen Informationen.