[FFM] Petra Roth geht in Jubel unter! Bingo!
17.05.2011 04:05 Themen: Kultur Medien Soziale Kämpfe
de.indymedia.org/2011/05/307796.shtml
Selbstinszenierung scheitert kläglich – Petra Roth geht in Jubel unter! Frankfurt. In der Aula des historischen Hörsaalgebäudes auf dem Campus Bockenheim sollte gestern, am 16. Mai in herrschaftlicher Atmosphäre das sogenannte zweite Bürgerforum zum »Kultur-Campus Bockenheim« stattfinden. Empörte Anwohner_innen und Studierende ließen die die selbstgerechte Inszenierung von Oberbürgermeisterin (OB) Petra Roth und dem von ihr geladenem Podium jedoch in Jubelchören untergehen. Nach knapp 1 1/2 Stunden verließ ein sichtlich entnervtes Podium unverrichteter Dinge den Raum.
Bereits im Vorfeld der Veranstaltung war selbst in der bürgerlichen Presse bemängelt worden, dass bei einem sogenannten Bürgerforum wohl auch die Betroffenen zu Wort kommen sollten. Besetzt war das von OB Roth geladene Forum jedoch mit Unipräsident Werner Müller-Esterl, dem Kulturdezernenten Felix Semmelroth, dem Geschäftsführer der AGB Holding (städtische Wohnungsbaugesellschaft) Frank Junker, Thomas Rietschel, Präsident der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (HfMdK), Michael Denkel, Stadtplaner und Jünger von Albert Speer und dem Planungsdezernenten Edwin Schwarz.
Zu Beginn der Veranstaltung war die Aula mit knapp 300 Teilnehmenden bis zum letzten Platz gefüllt und OB Roth genoss bei ihrer Eröffnungsrede offensichtlich den frenetischen Jubel, der ihr – unerwarteter Weise – zuteil wurde. Als dieser jedoch auch nach den ersten Sätzen nicht enden wollte, verschlechterte sich ihre Stimmung merklich. Grund für den Jubel waren Flugblätter die vor Beginn der Veranstaltung ausgelegt worden waren und zur überaffirmativen Teilhabe aufriefen. Ein »Partizipations-Bingo« forderte die Anwesenden auf, zu bestimmten Begriffen des Podiums zu jubeln und zu applaudieren.
Noch während der Eröffnungsrede von Roth hängten außerdem vier bunt geschminkt und gekleidete Menschen unter tosendem Beifall ein Transparent mit der Aufschrift »Einmal Latte mit Kultur-Campus. Zum in die Tonne treten, bitte!« auf. Schon zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich ab, dass der wohl von Podium gewünschte Verlauf des »Bürgerforums« nicht durchzusetzen ist, zumal die Mehrheit der im Publikum sitzenden Menschen wohl weniger an einer konstruktiven Teilnahme als an einer Dekonstruktion der Selbstinszenierung interessiert waren.
Nachdem die sichtlich überforderte Moderatorin am Anfang noch bemüht war, die Veranstaltung wie geplant durchzudrücken, versuchte sie kurze Zeit später dem Publikum das Wort zu überlassen und den »demokratischen« Charakter des Forums zu betonen. Allerdings ließen sich die Gäste auch davon nicht beirren und bedachten Roth und Co. weiterhin mit überschwänglicher Zustimmung. Sprechchöre wie »Wir leben für den Standort, wir lieben Konkurrenz, wir sind nicht eure Feinde wir sind eure Fans!« und »Petra Roth so hilf uns doch, den Campus gibt es immer noch!« hallten durch dem Raum. Konfetti, Luftschlangen und Papierschnipsel mit dem Logo des im Februar gegründeten »Wem gehört die Stadt?«-Netzwerkes und einem Aufruf zum Aktionstag am 11. Juni wurden in die Luft geworfen. Bereits jetzt hatten immer wieder einige der wenigen Unterstützer_innen des Podium unter Beifall den Saal verlassen.
Als dann auch noch Werner Müller-Esterl das Mikrofon ergriff, um sich selbst als Opfer der Umsände zu inszenieren, riefen wohl besonders die empörten Studierenden im Saal immer wieder lautstark »Räumen! Räumen!«. Erinnerten sie sich wohl noch sehr genau daran, wie das im Dezember 2009 im Rahmen von Studierendenproteste besetzte Casino auf dem IG Farben-Campus auf seine Anweisung hin von schwer bewaffneten Bullen mit Knüppeln und Pfefferspray geräumt worden war.
Eine ähnlich schlechte Figur machte neben ihm Edwin Schwarz. Vor seinem »Beitrag« hatte eine Rednerin aus dem Publikum bereits die Frage gestellt, warum eine »Bürgerbeteiligung« erst nach drei Jahren und nach dem Abspringen mehrerer Investoren zu Stande kam. Statt auf die Frage einzugehen, sah sich der offensichtlich überforderte Schwarz nur noch dazu in der Lage das Publikum zu beleidigen und den geladenen Bürger_innen mangelnden Intellekt vorzuwerfen.
Zwei weitere Beiträge aus dem Publikum nahmen dies zum Anlass, dass Demokratieverständnis des Podiums in Frage zustellen. Betont wurde auch, dass schon die Anordnung im Raum und die Boxen zur Verstärkung der Redebeiträge des Podiums nur auf das Publikum gerichtet seien. Dies offenbare, in welcher Richtung die Kommunikation stattfinden solle.
Nachdem Petra Roth zuerst die Schuld für diesen »Fehler« bei den Tontechniker_innen gesucht hatte, fasste sie sich ein Herz, selbst anzupacken und zwei der Lautsprecher in Richtung Podium zu drehen. Ein letzter Beitrag aus dem Publikum stellte klar: »Wir sind hier heute nicht gekommen um einen konstruktiven Beitrag zu dieser selbstgerechten Inszenierung zu leisten und wollen auch keine weiteren dummen Fraßen hören.« Der Redner forderte das Podium auf, endlich diese jämmerliche Veranstaltung zu beenden und den Saal zu verlassen. Das Publikum johlte, klatschte und stampfte mit den Füßen. Nach dem der »Jubel« auch in den nächsten Minuten nicht abnahm, erklärte eine sichtlich zerknirschte Petra Roth die Veranstaltung für beendet. Unter »Zugabe! Zugabe!« rufen verließen sie und ihr Anhang den Raum.
Weitere Infos zum »Wem gehört die Stadt?«-Netzwerk auf: www.wemgehoertdiestadt.net
Hier der Text des ausgelegten Flugblatts:
Wir danken und preisen!
Wir schreiben das Jahr 2011. Der gesamte Campus Bockenheim wird von Studierenden und anderem nichtsnutzigen Gesindel genutzt. Der ganze Campus Bockenheim? Nein! Eine kleine Gruppe unbeugsamer Frankfurter_innen hat sich zum Ziel gesetzt, diesem Treiben endlich Einhalt zu gebieten...
Als erfahrene Feldherrin im »Aufstand der Städte«, ist die allseits geliebte Petra Roth als Führerin einer kleinen Widerstandsgruppe auserkoren, dem barbarischen Treiben am Campus endlich ein Ende zu bereiten. Unterstützung bei ihrem Kampf für die Hochkultur erhält sie von dem unerschrockenen Werner Müller-Esterl, der spätestens seit dem Kampf um das Casino im Dezember 2009 weiß, wie man mit Schlagstock und Pfefferspray gegen Schmierfinken und Kulturfeinde vorgeht. Und auch die anderen Kämpfer_innen für das ›Wahre, Schöne, Gute‹, wie der Kopf der ABG Holding Frank Junker und der Planungsdezernent Edwin Schwarz, wissen ganz genau, wie man ganze Stadtviertel und städtischen Wohnungsbau aufwertet, um im immer härteren Kampf und den Standort konkurrenzfähig zu bleiben.
Wir sind heute hierher gekommen, um dafür endlich einmal laut und deutlich »Danke!« zu sagen. Denn wir verzichten gerne auf das Studierendenhaus als Ort demokratischer Kultur und Mitbestimmung, wenn es der Hochkutur dient. Auch dem Kindergarten und den Unterkünften für Studierende weinen wir keine Träne nach, denn wir wissen, es geht darum konkurrenzfähig zu bleiben – auch mit New York, Rio, Tokio. Wir verstehen, dass der Kultur-Campus als strahlender Leuchtturm auch Schatten werfen wird und die Mieten in Bockenheim steigen müssen. Wir akzeptieren demütig, dass manch' eine_r von uns es sich bald nicht mehr leisten können wird, hier die Miete zu zahlen, denn wir wissen, dass wir unseren Wohnraum für die Leistungsträger_innen in der Gesellschaft frei machen müssen, die dafür sorgen, dass es uns allen in Zukunft besser gehen wird.
Wir möchten uns außerdem dafür bedanken, dass wir – denen uns der Weitblick für solch weitreichende Entscheidungen fehlt – so vorzüglich repräsentiert werden. Weil wir tagein tagaus damit beschäftigt sind, für Miete, Fressen und all die anderen wunderbaren Geschenke, die die kapitalistische Gesellschaft für uns bereit hält, die Kohle aufzutreiben, haben wir leider nicht die Zeit uns mit Hochkultur, dem Standort und derlei wichtigen Dingen zu beschäftigen. Um so mehr sind wir glücklich darüber, bei Veranstaltungen wie diesen an den weisen Entscheidungen der von uns so verehrten Repräsentant_innen teilhaben zu dürfen. Dass wir eigene Beiträge einbringen dürfen – wenn auch meist von eher plumper Natur – vermittelt uns ein Gefühl von Teilhabe und Erhabenheit. Wir sind wahrhaft dankbar!
Stimmt ein den Chor für Standort und die Konkurrenz! Unterstützt uns und vor allem unsere Repräsentant_innen und bedenkt Sie wenigstens heute mit ausreichend Jubel und Applaus!
Ressort: Politik Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.02.2011, Nr. 38, S. 6
Revolution nach Plan
Die Initiatoren der Proteste in Ägypten hatten sich zuvor mit Mitstreitern aus Tunesien und einer Gruppe von erfahrenen Aktivisten in Serbien beraten - vor allem über das Internet. Sie folgten einer über lange Zeit entwickelten Strategie.
Von Rainer Hermann
KAIRO, 14. Februar. Über Jahrzehnte war es stets das gleiche Bild: Die ägyptische Polizei löste in Kairo rasch jede Demonstration auf, das Regime erstickte jeden Protest im Keim. Nun aber hat eine Jugendbewegung nach 18 aufreibenden Tagen ein Regime hinweggefegt, das seit der Revolution von 1952 geherrscht hatte. Einer der Muslimbrüder sagte auf dem Tahrir-Platz, immer habe er geglaubt, Gott habe die Muslimbruderschaft beauftragt, das Regime zu stürzen. Nun aber sehe er, dass Gott damit die säkulare Jugend beauftragt habe. Offenbar müssten die Islamisten bescheidener sein und diese säkulare Jugend als Partner akzeptieren, leitete er daraus ab.
Zwei Faktoren bescherten der jungen Demokratiebewegung den Erfolg, der anderen zuvor versagt geblieben war: Sie hatte erstens aus den Fehlern früherer Proteste gelernt, und zweitens von den Erfahrungen der Protestbewegung in Tunesien. In beiden Fällen spielten die neuen Medien die zentrale Rolle - und auch hier waren die islamistischen Muslimbrüder nicht auf der Höhe der Zeit. Issam el Eryan, einer der Führer der Muslimbruderschaft, hatte das Fernbleiben seiner Organisation von den Protesten, die am 25. Januar begonnen hatten, damit begründet, dass man sich nicht an eine virtuelle Welt binden wolle, deren Mitglieder man ja nicht persönlich kenne.
Die Großmutter aller Proteste waren die Brotunruhen von 1977. Aktivisten, die schon an diesen beteiligt waren, fanden 2004 unter Führung des pensionierten Lehrers George Ishaq in der Mutter der heutigen Demokratiebewegung wieder: in der Bewegung "Kifaya" ("Genug!"), die ein Ende der Herrschaft Mubaraks forderte. Ihre Kundgebungen fanden jedoch nur in Kairos Innenstadt statt. Selten waren es mehr als hundert Demonstranten, und diese sahen sich dabei meist einer schwer bewaffneten Phalanx von mehreren hundert Bereitschaftspolizisten gegenüber. Da diese wegen ihrer Brutalität berüchtigt waren, wurden nie mehr Demonstranten mobilisiert.
Eine Lektion sei gewesen, die Kundgebungen nicht in der Innenstadt beginnen zu lassen, sondern in der Peripherie Kairos, sagt Shadi Ghazali, der 32 Jahre alt ist, Chirurg und Spezialist für Lebertransplantationen. Die Kundgebung vom 25. Januar habe daher im Arbeiterviertel Nahya begonnen. Als der Zug im Mittelklasseviertel Mohandessin ankam, war er auf 6000 Demonstranten angewachsen, auf dem Tahrir-Platz waren es dann schon 20 000. So viele waren nie zuvor bei einer nicht genehmigten Kundgebung auf dem Platz gewesen. "Von da an wussten wir, dass wir Mubarak stürzen können", sagt Ghazali.
Dass sie so weit gekommen sind und sich auf dem Weg neue Demonstranten angeschlossen haben, verdanken sie den Probeläufen, welche die Organisatoren während des vergangenen Jahres gestartet hatten. Sie prüften verschiedene Taktiken und Techniken der Mobilisierung, auch Maßnahmen der Verteidigung gegen Übergriffe der Polizei bei kleineren Kundgebungen in einzelnen Stadtteilen.
Auf den 25. Januar hatten sich die Vertreter von zehn Oppositionsgruppen als Tag der Kundgebung geeinigt, weil er der "Tag der Polizei" war und ein staatlicher Feiertag. Die Polizei hatte im Juni 2010 in Alexandria den bekannten Blogger Chaled Said zu Tode geprügelt. Dagegen wollten die Demonstranten ein Zeichen setzen.
Am 18. Januar trafen sich die zehn Organisatoren in einer privaten Wohnung und bereiteten den 25. Januar vor - am 14. Januar war Ben Ali aus Tunesien geflohen. Die erfolgreiche Revolte in Tunesien hatte sie inspiriert. "Da wussten wir, dass mehr möglich war als eine Kundgebung", sagt Ghazali. "Wir wollten eine Revolution." Dazu lernten sie von ihren jugendlichen Mitstreitern in Tunesien. Die ägyptische Polizei hatte die Demonstranten in der Nacht vom 25. auf den 26. Januar vom Tahrir-Platz mit Tränengas und anderen Mitteln vertrieben. Die Tunesier wussten noch in der gleichen Nacht Rat: "Mit Essig oder Zwiebeln unter dem Gesichtsschutz könnt Ihr das Tränengas neutralisieren", schrieben sie. Auch lernte die ägyptische Bewegung von den Tunesiern, wie sie sich im Straßenkampf mit der Polizei am besten verhält.
Seit zwei Jahren hatten sich Tunesier und Ägypter schon über die Internetplattform Facebook ausgetauscht - auch innerhalb Ägyptens berieten sich die Aktivisten und spornten sich gegenseitig an. Sie nahmen Kontakt zu den kampferprobten berüchtigten "Ultras" des Fußballklubs al Ahli auf. Diese sind zwar unpolitisch, aber sie hatten in zahlreichen Straßenschlachten mit der ägyptischen Polizei wertvolle Erfahrungen gesammelt. Während der Kämpfe auf dem Tahrir-Platz sicherten mehr als zehntausend von ihnen vor allem den östlichen Teil des Platzes.
Die Demonstranten selbst waren friedlich und unbewaffnet. Am blutigen Mittwoch, den 2. Februar sahen sie sich hilflos Horden von Schergen des Regimes gegenüber, die über Stunden, auf Pferden und Kamelen reitend, mit Pistolen und Macheten ein Gemetzel anrichteten. Ghazali erzählt, wie ihm, dem Chirurgen, bei den Straßenkämpfen zwei schwerverletzte Demonstranten unter den Händen starben. Am nächsten Tag wurde er mit neun anderen Aktivisten verhaftet, vom militärischen Geheimdienst verhört und über eine angebliche Verschwörung des Auslands gegen Ägypten ausgefragt. Im Verhör sei ihnen klargeworden, dass auch der militärische Geheimdienst den Rücktritt Mubaraks als unausweichlich sah. Nach 48 Stunden wurde die Gruppe wieder auf freien Fuß gesetzt.
Die Aktivisten waren bei der Suche nach Vorbildern für gewaltfreien Protest auf die serbische Jugendbewegung "Otpor" ("Widerstand") gestoßen, die in Serbien am Sturz des Diktators Milosevic beteiligt war und sich vom amerikanischen Politologen Gene Sharp hatte inspirieren lassen. Der hatte seit den siebziger Jahren Strategien des gewaltfreien Widerstands als Mittel entwickelt, um Polizeistaaten zu untergraben. Die "Bewegung des 6. April", die der Blogger und Kifaya-Aktivist Ahmad Maher ins Leben gerufen hatte, übernahm sogar das Logo von "Otpor". Maher hatte im Internet über die gewaltsam niedergeschlagenen Arbeiterstreiks vom 6. April 2008 im ägyptischen Mahalla al Kubra berichtet.
Einige aus der "Bewegung des 6. April" trafen in Belgrad mit "Otpor"-Aktivisten zusammen. Noch hatten sich Leute wie Maher angesichts der ernüchternden Erfahrungen in vergangenen Protesten von der Straße an den Computer zurückgezogen. Dort aber tauschten sie sich mit Aktivisten in Tunesien aus. Wenige Monate nach den Streiks von Mahalla al Kubra ließ sich eine Gruppe, die sich nach Streiks im tunesischen Haud al Mongami bildete und sich "die fortschrittliche Jugend Tunesiens" nannte, von Ahmad Maher über politischen Internet-Aktivismus beraten.
Inspiriert von Gene Sharp gründeten junge Auslandsägypter in Qatar die "Akademie des Wandels". Ihre Mitglieder trainierten die ägyptischen Aktivisten in der Woche bis zum 25. Januar. Einen wichtigen Impuls erhielten die zehn Gruppen, die sich in der "Koalition der Jugend für die ägyptische Revolte" zusammengeschlossen hatten, als sich ihr vor einem Jahr der 31 Jahre alte Auslandsägypter Wael Ghonim anschloss, der in Dubai bei Google Marketingchef für den Nahen Osten ist. Er arbeitete eng mit der "Bewegung des 6. April" und dem Oppositionspolitiker Mohamed El Baradei zusammen und richtete mit seiner Marketingexpertise die Facebook-Gruppe "Wir sind alle Chaled Said" ein. Über sie erfolgte maßgeblich die Mobilisierung der Protestbewegung, die zum Sturz Mubaraks führte.
Dass die jungen Demonstranten die fünf Stunden lange Schlacht gegen die Polizei am 28. Januar, dem "Tag des Zorns", gewannen, lag entscheidend an den Ratschlägen aus Serbien und Tunesien. Mit Zwiebeln und Essig neutralisierten Aktivisten das Tränengas, mit Milch und Mineralwasser reinigten Demonstranten ihre Augen, sie trugen verborgene Schutzkleidung, sie warfen Farbbeutel auf die Scheiben der Polizeiautos und die Schutzschilde der Polizisten, um ihnen die Sicht zu nehmen. Nach fünf Stunden hatten sie den Tahrir-Platz erobert und erzwangen von dort Mubaraks Rücktritt.
Nun teilen die ägyptischen Aktivisten über Facebook und andere neue Medien ihr Wissen mit Mitstreitern in Algerien, Libyen und Marokko, im Jemen und in Syrien - selbst in Iran. "Wenn Gruppen wie unsere in anderen Ländern auf die Straße gehen und sie ausdauernd sind wie wir, könnte dies das Ende aller Regime bedeuten", sagt Walid Raschid von der "Bewegung des 6. April".
Spiegel TV über Simon Brenner
www.spiegel.de/video/video-1110415.html
linksunten.indymedia.org/de/node/31404
Der Fall "Simon Brenner"
Verfasst von: Nachermittlungen. Verfasst am: 03.01.2011 - 16:26. Kommentare: 115
Heidelberger LKA-Spitzel "Simon Brenner" als Simon Bromma enttarnt Am 12. Dezember 2010 wurde in Heidelberg ein in die linke Szene eingeschleuster Spitzel des Landeskriminalamts Baden-Württemberg enttarnt. Der Deckname des Polizeispitzels lautete "Simon Brenner". Sein Klarname ist Simon Bromma. Seiner Legende nach kam "Brenner" aus Bad Säckingen. In Wirklichkeit kommt Bromma aus Radolfzell am Bodensee.
Bullen, Narren, Spießbürger
Der fiktive Vater des politisch interessierten Studenten "Simon Brenner" heißt "Franz" und wohnt in der Zeppelinstraße 45 in Bad Säckingen am südlichen Rand Baden-Württembergs. Der Vater des Polizisten Simon Bromma heißt ebenfalls Franz und wohnt im Süden Baden-Württembergs. Der reale Franz lebt in Radolfzell und arbeitet in Konstanz. Bei der Polizeidirektion. Vater Bromma ist gewerkschaftlich organisiert in der "Deutschen Polizeigewerkschaft", ist Mitglied des Pfarrausschusses St. Meinrad und "Fähnrich" der 1933 gegründeten Narrengarde der Narrenzunft "Narrizella Ratoldi".
Auch Simons Bruder Benjamin "Bennie" Bromma ist bei der Polizei. Der Polizeiobermeister ist im gleichen Narrenverein wie der Vater organisiert, spielt Schlagzeug in der Radolfzeller Blasmusikkapelle und im Orchester der "Gemeindejugend Mühlhausen, Ehingen & Aach".
Simon Bromma selbst ist im Turnverein aktiv. Als "Turngauverantwortlicher" beim "40. Internationalen Jugendzeltlager der Badischen Turnerjugend in Breisach" im August 2008 nahm er Anmeldungen unter seiner Heimatadresse Allmendstraße 9, 78315 Radolfzell, Telefon (07732) 971600, E-Mail: SimBromma@yahoo.de entgegen. Kein Zweifel: Familie Bromma ist im Radolfzeller Vereinsleben fest verwurzelt.
Eine Legende nah am Leben
Noch im Januar 2010 - während er bereits als "Simon Brenner" in Heidelberg auf Wohnungssuche ging - wurde Simon Bromma bei der Hauptversammlung des "Hegau-Bodensee-Turngau" im "Wein- und Kulturzentrum des Meersburger Winzervereins" als "Jugendwart" gewählt. Auf der "Turngau"-Homepage wird er immer noch als "Jugendwart (kommissarisch)" geführt, allerdings unter der Adresse der Bereitschaftspolizei Böblingen in der Wolfgang-Brumme Allee 52, 71034 Böblingen, Tel. 0160/90646795, E-Mail: Jugendwart@Hegau-Bodensee-Turngau.de.
Ende 2006 erhielt Bromma seinen Gesellenbrief und eine Auszeichnung im Bereich "Metall". Wie aus den gehackten Mails von "Simon Brenner" hervorgeht, gab er bei einer "Selbstauskunft für Mietinteressenten" während seiner Wohnungssuche in Heidelberg an, eine "Ausbildung zum Industriemechaniker" gemacht zu haben. Gegenüber Heidelberger Linken behauptete er, im Betrieb seines Vaters Schlosser gelernt zu haben.
"Simon Brenner" fuhr gerne mit dem Fahrrad von seiner außerhalb Heidelbergs liegenden Wohnung in die Stadt. Simon Bromma nahm 2008 für seine Polizeidirektion an einem Fahrradrennen in Kirchzarten teil. Laut Personalausweis wurde "Brenner" am 13.04.1986 geboren, Bromma gab bei seiner Anmeldung in Kirchzarten als Geburtsjahr 1985 an. "Simon Brenner" benutzte die Yahoo-Mailadresse simonbrenner@ymail.com, Simon Bromma ist unter simbromma@yahoo.de zu erreichen. Für seinen Amazon-Account verwendet Bromma die Adresse simykingmail@gmx.de. Am 29.10.2008 bestellte Bromma das Buch "Jeden Tag den Tod vor Augen: Polizisten erzählen [Broschiert]". Als Rechnungsadresse gab er die Allmendstraße in Radolfzell an.
Wunderbar ist die Gabe, die Lüge spitz zu kriegen
Nach seiner Ausbildung bei der 5. Bereitschaftspolizeiabteilung in Böblingen wechselte Bromma 2009 ins Polizeirevier Überlingen in der Mühlenstraße 16. Beim LKA absolvierte er nach eigenen Angaben eine mehrmonatige "Spezialausbildung" zum Spitzel und begann Ende 2009 die Identität "Simon Brenner" aufzubauen. Ab Anfang April 2010 infiltrierte Bromma aktiv die linke Szene in Heidelberg. Neben regelmäßigen Berichten für die LKA-Abteilung "I540 Verdeckte Ermittlungen", die er nach eigenen Angaben alle zwei Wochen in Stuttgart verfasste, hielt er auch Kontakt zum Heidelberger Staatsschutz. Seine Kontaktbeamten beim Heidelberger Dezernat 14 waren Michael Schlotthauer (49 Jahre) und Volker Schönfeld (46 Jahre).
"Simon Brenner" nutzte Bankkonten bei der Postbank Stuttgart mit der Kontonummer 460730700 und bei der Volksbank Rhein-Wehra mit der Kontonummer 43458302. Seinen Heidelberger "Genossinnen und Genossen" gab er die Handynummer (0151) 20727114, mit der er auch mit seinen Führungsbeamten beim LKA Kontakt hielt. Eine weitere Nummer von "Simon Brenner" war (0160) 6543994. Er bewarb sich bei verschiedenen Wohnungen, die alle ein Stück außerhalb Heidelbergs lagen, obwohl er mit seinem Spesen-Budget auch ein Zimmer im Stadtzentrum hätte finanzieren können: "Preislich liegt meine "Schmerzgrenze" bei ca. 500 € pro Monat (Kaltmiete)".
"Simon Brenners" Legende weist viele Ähnlichkeiten mit seinem realen Leben auf. Aus Sicht der Bullen macht das Sinn. Weder der Spitzel noch Freunde können sich so leicht verplappern, eine Zufallsbegegnung eines alten Bekannten endet wegen der Ähnlichkeit des Namens nicht gleich mit der Enttarnung und der Spitzel kann auf den vertrauten Klang des Namens reagieren. Durch Überschneidungen von Biographie, Heimatregion, Kenntnissen und Hobbys der realen und fiktiven Person muss der Spitzel sich nicht zu sehr verstellen. Und eine Bullenfamilie ist der beste Garant für loyales Schweigen.
Spitzel sind das Allerletzte
"Simon Brenner" war sich sicher, dass er einfach abtauchen kann. Er glaubte an die Anonymität seiner realen Identität. Für ihn war sein Verrat nur ein Spiel. Aber Verrat ist kein Spiel. Simon Bromma wird die Konsequenzen seines Handelns tragen müssen.
Ressort: Politik Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.02.2011, Nr. 27, S. 4
Auf verlorenem Posten
Weil in Berlin ein Mietshaus geräumt werden soll, wird mit Krawallen der radikalen Szene gerechnet. Die steht mit ihrem Anliegen freilich ziemlich alleine da.
Von Mechthild Küpper
BERLIN, 1. Februar. An diesem Mittwoch soll um acht Uhr morgens das Haus Nummer 14 in der Liebigstraße im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg geräumt werden. Die etwa zwei Dutzend Personen, die seit 1990 das Haus - erst als Besetzer, dann als Mieter - bewohnen, wollten mit einem Eilantrag beim Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg die Räumung verhindern, das lehnte das Gericht ab, die Bewohner legten Beschwerde ein. Dass es in der Auseinandersetzung neue Argumente geben könnte, ist schwer vorstellbar. Das Haus wurde verkauft, der neue Eigentümer hat den Bewohnern gekündigt, die in den vergangenen zwanzig Jahren miterleben konnten, wie sich die Gegend um den Bersarinplatz von einem heruntergekommenen zu einem begehrten Wohnquartier entwickelte.
Die Berliner Grünen, die in Kreuzberg-Friedrichshain den Bürgermeister stellen, forderten "alle, die sich in der Liebigstraße 14 rechtswidrig aufhalten", auf, das Haus friedlich zu verlassen. Ausdrücklich verurteilten sie Gewalt und Ausschreitungen. Zu Gewalt - vierzig Polizisten und ein Journalist wurden durch Stein- und Flaschenwürfe verletzt - war es bei einer Demonstration gegen die bevorstehende Räumung am Samstag gekommen, es wurden Farbbeutel geworfen und Parolen an Fassaden gesprüht: "L 14 verteidigen".
Die Bewohner kündigten an, sie würden "das Haus nicht besenrein übergeben"; wenn "bewaffnete Polizisten" auftauchten, werde es nicht friedlich bleiben. Am Wochenende hatten die Bewohner einen Flohmarkt abgehalten, um das Haus mit leichtem Gepäck verlassen zu können. Für ihren Wohngeschmack - Roger-Whittaker-Platten, Monopoly und Waffeleisen - hatten sie sich verspotten lassen müssen.
Anders als in den achtziger Jahren, als in West-Berlin Wohnungsbaufirmen großflächige und teure Sanierungsvorhaben durchsetzten, während sie zugleich Altbauhäuser verkommen ließen, genießen die Bewohner der Liebigstraße 14 wenig Zuspruch. Die Tage, als rebellische Jugendliche sich der in vierzig DDR-Jahren vollkommen heruntergekommenen Häuser annahmen, indem sie diese besetzten, sind längst vorbei. Berlin zieht, wie damals, junge Leute an, auch arme. Aber viele seiner ehemals elenden Wohnquartiere entwickeln sich positiv. In Nord-Neukölln etwa sind heute Wohnlagen attraktiv, die es nicht waren, als der Flughafen Tempelhof noch angeflogen wurde. Die Berliner Mieten, das belegte jüngst eine Studie, steigen, auch wenn sie noch weit von denen reicherer Großstädte wie München, Frankfurt und Hamburg entfernt sind. Selbst in beliebten Straßen in Prenzlauer Berg, wo die Neubaumieten in den vergangenen drei Jahren durch häufige Umzüge besonders stark, zum Teil um über 15 Prozent gestiegen sind, liegen die Mieten derer, die schon länger dort wohnen, immer noch unter sechs Euro je Quadratmeter.
"Es gibt kein Recht auf Innenstadt" - so kommentierte Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung den Protest in der Liebigstraße. Denn den Bewohnern war in langwierigen Verhandlungen ein Ausweichquartier in Pankow angeboten worden, was diese jedoch als unzumutbar ablehnten. Ihre Szene vertritt die These, aus der Berliner Innenstadt würden die Armen und die Alteingesessenen vertrieben: "Gentrifizierung" heißt der Kampfbegriff dafür.
Seit in Stuttgart unerwartet viele gegen den neuen Bahnhof protestierten, wird auch in Berlin die Verwaltung bei jedem Planungskonflikt auf die Macht des Protests hingewiesen. Das Anliegen der Liebigstraßenbewohner vereint durchaus einige linksradikale Gruppen und Personen hinter sich, es wird aber von einem weit größeren Teil der Bevölkerung als illegitim angesehen. Die Berliner "Tageszeitung" ("taz") fragte, wofür "L 14" eigentlich stehe, und empfahl: "Linke, kauft Häuser!"
Dass die Grünen mit "L 14" nichts zu tun haben wollen, kann man als gelernte Lektion aus ähnlichen Konflikten der Vergangenheit verstehen. Kreuzberger Besetzern war vor einigen Jahren noch die feindliche Übernahme des ehemaligen Krankenhauses Bethanien gestattet worden, aus dem andere, zahlende Mieter regelrecht flohen. In Prenzlauer Berg kämpft Stadtrat Holger Kirchner (Grüne) gegen gut organisierte Grüppchen, die verbalradikal gegen jede Straßensanierung auftreten. Diese, zumeist aus gediegenen westdeutschen Milieus stammend, verteidigten die für Alte und Kinderwagenschieber tückischen "verranzten" Straßen wie ein Kulturgut, argumentiert Kirchner. Die dortige SPD mokiert sich darüber, dass die Grünen abermals nach Bürgerbeteiligung rufen: Die Kastanienallee sei nicht "Stuttgart 21".
Seitenüberschrift: MEINUNG Ressort: Sonntagszeitung Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 06.02.2011, Nr. 5, S. 8
Neue Zeiten in Berlin
Von Mechthild Küpper
Ein Haus wird geräumt. Die Besetzer ernten vor allem Spott. Nur die Linken stellen sich auf ihre Seite.
Das Schwelgen in alter Berliner Hausbesetzerseligkeit, dem sich dieser Tage viele hingegeben haben, ist inzwischen schiere Nostalgie. Das hat die Räumung des Hauses Liebigstraße 14 gezeigt. Berlin mag die Hauptstadt der gewaltbereiten Linksradikalen sein. Doch Ausstrahlung zu entfalten fällt ihnen schwerer als vor zehn Jahren.
In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts inspizierte beispielsweise Innensenator Heinrich Lummer (CDU) ein geräumtes Haus, was als Triumphalismus verstanden und verabscheut wurde. Im November 1990 zerbrach die erste rot-grüne Berliner Regierung an der Räumung besetzter Häuser in Friedrichshain. Hausbesetzer genossen damals Sympathien weit über die Aktivistenzirkel hinaus, und die Grünen waren ihre Partei.
In der vergangenen Woche waren 2500 Polizeibeamte damit beschäftigt, 25 Bewohner eines Altbaus mit zehn Wohnungen zum Auszug zu bewegen und die Proteste ihrer Sympathisanten zu begleiten. Durch alle Vermittlungsversuche und Gerichtsinstanzen hatten die gekündigten Mieter darauf beharrt, ihr Wohnprojekt in diesem Haus und nur dort weiterführen zu können: Bewegen sollten sich die Eigentümer, die das Haus vor zwölf Jahren gekauft hatten und seit 2007 erfolgreich vor den Gerichten die Räumung des Hauses erstritten. Heute mögen sich nur noch Leute, die es von Berufs wegen müssen, mit Leuten an einen Tisch setzen, die Ansprüche solcher Art stellen: Bezirkspolitiker haben in solchen Konflikten eben in den Nahkampf zu gehen.
Dabei entstehen Situationen, in denen linke Politiker anders scheitern als konservative. Lummers Siegergeste machte ihn auf Jahrzehnte zum Feindbild der linken Szene; ihm war's recht. Seit in Berlin die SPD mit der Linkspartei regiert, seit neun Jahren also, müssen Linke die Sicherheit und Ordnung in der Stadt gewährleisten, ohne den Gesprächsfaden zu den Szenen abreißen zu lassen, die mit Gefahr und Chaos flirten.
Niemand geht so weit wie die Bundesvorsitzende der Linkspartei, Gesine Lötzsch, die mit der immer noch Gewalt predigenden früheren Terroristin Inge Viett über "Wege zum Kommunismus" geplaudert hätte, wenn das Vorhaben nicht vorher aufgefallen wäre. Frau Lötzsch findet, die Verantwortung für die Räumung der Liebigstraße 14 liege beim Senat. Da hat sie recht. Doch trifft das ihre mitregierenden Parteifreunde nicht. Denn bislang ist es der Linkspartei gelungen, sich aus Konflikten zwischen der Staatsgewalt und den linken Szenen weitgehend herauszuhalten - da macht sich ihre Herkunft aus der Staatspartei SED für sie einmal positiv bemerkbar.
Sie habe sich eine friedliche, eine "politische" Lösung gewünscht, gab Frau Lötzsch zu Protokoll. Als wäre die am Ende nicht an der Sturheit der Besetzer-Mieter gescheitert. Auch bester Wille vermag 25 Mietern nur ganz ausnahmsweise die billige Nutzung eines ganzen Mietshauses zu sichern.
Innensenator Ehrhart Körting (SPD) vermeidet die auftrumpfenden Töne. Er weiß, dass ein gewaltfreier 1. Mai nicht vom guten Willen der Politik abhängt und dass noch so viele Polizisten nicht verhindern können, dass Betrunkene ohne jeden Anlass auf Busfahrer eindreschen oder vermeintlich Linke nachts geparkte Autos anzünden. Die SPD, vornweg ihr Spitzenkandidat Klaus Wowereit, ist froh, dass Berlin sich günstig entwickelt, dass Quartiere attraktiver werden und die Mieten steigen. Die SPD nutzt die "Gentrifizierungskonflikte", um sich als Partei des Aufstiegs zu präsentieren und sich vom Berliner Leitbild der Armut für alle zu verabschieden.
Die Grünen, die seit 2002 Regierungspartei im Wartestand sind und im September endlich in Berlin regieren wollen, haben es in diesen Konflikten am schwersten. Das merkt man daran, wie weit die Ansichten ihrer Politiker in allen möglichen Konflikten zwischen Verwaltung und protestierenden Bürgern auseinandergehen. Auf der Oppositionsbank haben die Grünen, anders als die mitregierende Linkspartei, einen Sinn und einen Ton fürs Gelingen entfaltet. Die Räumung an der Liebigstraße lassen ihre Fraktionsvorsitzenden sich nicht als Thema diktieren. Entschieden distanzierten sie sich von der Gewalt und den Ausschreitungen. Die Spitzenkandidatin Renate Künast weist kühl auf die Rechtslage hin. Nur ihr Bezirksbürgermeister Franz Schulz hat ein gutes Wort für den alternativen Lebensstil - des Lokalaromas wegen.
Als die Räumung begann, legten sie an der Liebigstraße "Spiel mir das Lied vom Tod" auf. Da brauchten die jungen Radikalen für den Spott nicht mehr zu sorgen: Die einen lachten über die Schlagerplatten, die sie vor dem Räumungstermin im Hinterhof verkauften, die anderen wiesen darauf hin, dass man in Berlin Häuser durchaus auch günstig kaufen kann, wenn einem der Sinn nach experimentellem Wohnen steht. Nach derRäumung wurden die Besetzer-Mieter belehrt, dass nur Spießer ihren Kiez so bewahren wollen, wie er war, bevor sie und ihresgleichen ihn zerstörten. Die Zeiten ändern sich - selbst in Berlin.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.12.2010, Nr. 305, S. 42
Die Polizei in Baden-Württemberg dachte vielleicht, sie beuge einer Gefährdung vor. Ein paar Studenten aus Heidelberg dachten, sie hätten einen Freund gefunden. Aber dann war alles ganz anders. Die letzte Enthüllung des Jahres.
Von Marcus Jauer
Der Mann, der sich Simon Brenner nannte, wurde zuletzt vor drei Wochen gesehen. Das war an einem kalten Dezemberabend, er stand in der Altstadt von Heidelberg, umringt von mehr als einem Dutzend Studenten, nur wenige Meter von dem Café entfernt, in dem er zwei Stunden zuvor zugegeben hatte, ein verdeckter Ermittler der Polizei zu sein.
Seither ist Simon Brenner verschwunden. Seine Wohnungen sind verwaist, die eine steht leer, in der anderen wohnen neue Mieter, die Nachbarn erinnern sich nicht an ihn. Er geht nicht mehr ans Telefon, weder unter der einen, noch unter der anderen Nummer. Schreibt man ihm eine E-Mail, meldet sich eine Gruppe von Computerhackern und bietet Informationen über ihn an. Es ist, wie er gesagt hatte: "Ihr werdet mich nicht wiedersehen."
Das letzte Foto, das es von ihm gibt, zeigt einen jungen Mann mit langen rotblonden Haaren, der sich die Hand vor das Gesicht hält. Es entstand an dem Dezemberabend, an dem er verschwand.
Dominique Schlaag war nicht dabei vor dem Café. Es gab eine Zeit, da haben sie sich jeden Tag gesehen, und wenn sie sich nicht sahen, haben sie gemailt, mehrmals am Tag. Sie waren auf jene Art kein Paar, wie das nur sehr gute Freunde sind. Das war im Sommer. Danach, sie weiß gar nicht, warum, hat er weniger mit ihr unternommen. So hat sie erst später erfahren, was passiert war.
"Eigentlich komme ich gerade erst aus der Schockphase", sagt sie.
Dominique Schlaag hat ihn zum ersten Mal auf einer Demonstration vor dem Atomkraftwerk Biblis gesehen. Sie war mit dem SDS dort, dem Sozialistischen Demokratischen Studierendenverband, der Jugendorganisation der Linken, in der sie sich engagiert. Jemand lud ihn auf ihr Grillfest ein. Das war Ende April. Zum 1. Mai nach Berlin sind sie dann schon mit seinem Auto gefahren.
Sie waren zu viert auf der langen Fahrt, haben geredet, gescherzt, in Berlin gingen sie demonstrieren, Sitzblockade gegen Nazi-Aufmarsch, er und sie fast in der ersten Reihe, die Stiefel der Polizisten nah vor ihnen. Später sind sie durch die Stadt gezogen. Er fand sich gut ein in ihre Gruppe, war offen, hilfsbereit, zuverlässig, immer fröhlich. Sie kann nichts anderes sagen. "Er war kein Fremdkörper."
Danach kam er häufiger zu ihren Treffen an die Universität, besuchte den Rosa-Luxemburg-Lesekreis, fuhr auf ein Zeltlager gegen Abschiebungen, bereitete sich auf den Castor-Transport vor. Einmal war er mit in Stuttgart, als es gegen den Bahnhof ging. Er ließ sich nie in politische Diskussionen verstricken und kannte sich auch mit den ganzen Abkürzungen nicht so aus. Aber sie sind nur sechs, sieben Leute beim SDS in Heidelberg, da freuen sie sich über jedes neue Gesicht.
"Er wirkte ganz unabhängig und frei", sagt Dominique Schlaag, "das hat mich fasziniert."
Einmal hat sie ihn gefragt, warum er erst mit vierundzwanzig Jahren zu studieren angefangen habe. Er sagte, er habe Schlosser gelernt im Betrieb seines Vaters und später in einem Erdwärmekraftwerk gearbeitet, unter Tage, das habe er nicht mehr gewollt, deshalb. Aber eigentlich sprach er nicht gern über früher.
Sie hat ihn oft zum Frühstück getroffen oder ist mit ihm zusammen Rad gefahren, sie wollten immer mal ein Tandem ausprobieren, dazu ist es nicht mehr gekommen. Nachdem alles herausgekommen war, hat sie überlegt, ob sie die E-Mails, die er ihr geschrieben hat, durchsuchen soll nach etwas, was sie übersehen hatte. Aber das hat sie dann nicht gemacht.
"Ich will weiter unbefangen auf jemanden zugehen", sagt sie, "ich will nicht misstrauisch sein. Aber es ist schon so, als wäre man mit einer Marionette zusammen gewesen."
Einmal ist sie in seiner Wohnung gewesen, ganz schöne Wohnung, ein Zimmer, Couch, Schrank, Küchenzeile. Keine Bücher, keine privaten Fotos, nur ein paar Postkarten und zwei leere Flaschen Rum. Sie haben Musik von Regina Spektor gehört, was ihr vor ihren Freunden peinlich gewesen wäre, wo sie doch Musiktherapeutin werden will. Aber im Nachhinein ist das alles, woran sie es hätte merken können, denkt sie, diese Kaufhausmusik und dass er so heißt wie der Privatdetektiv aus dem Krimi von Wolf Haas.
"Wussten Sie, dass er Ethnologie studiert hat?", fragt sie. "Als habe er uns untersucht."
Simon Brenner schreibt sich im Sommersemester 2010 an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg ein. Dazu muss er einen Personalausweis und ein Abiturzeugnis vorgelegt haben. Laut Studienausweis wurde er am 13. April 1986 geboren. Er erhält die Matrikelnummer 2858472 und wählt die Fächer Germanistik und Ethnologie. Später tauscht er Germanistik gegen Soziologie. Er wird dabei gesehen, wie er Vorlesungen besucht, und schließt offenbar auch einige Kurse mit Schein ab.
Sven Franke und Matthias Richter sitzen im Keller des Fachschaftsrats. Es ist nach Weihnachten. Sie sind im Moment die Einzigen hier. An einem Schrank kleben Aufrufe gegen Studiengebühren, in einem Regal liegen eingerollte Spruchbänder, und auf dem Tisch steht ein Apfelkuchen aus dem Supermarkt. In diesen Räumen trifft sich donnerstags um acht Uhr abends die "Kritische Initiative", eine lose linke Gruppe.
"Wir wollen kritisch mit den Verhältnissen umgehen", sagt Matthias Richter, "daher der Name."
Mal sind sie zehn, mal zwanzig Leute, verschiedene Fakultäten, verschiedenes Alter. Mal besetzen sie beim Bildungsstreik einen Hörsaal, mal stellen sie sich neben den Rektor und machen Seifenblasen, wenn der den neuen Studenten zur Semestereinführung ihre Zukunft ausmalt. Vor Weihnachten haben sie in der Einkaufsstraße der Stadt große Pakete ausgeteilt, in denen ein kleiner Zettel lag: "Im Kapitalismus gibt es nichts geschenkt."
"Hat Simon die nicht noch mit eingepackt?", fragt Sven Franke.
Seit sie an der Universität sind, machen sie sich Gedanken darüber, wie sie Studenten für Politik interessieren könnten. Nun sind sie ohne Grund und womöglich acht Monate lang von einem verdeckten Ermittler der Polizei ausspioniert worden. Wären sie so gefährlich, dass man ihnen derart beikommen müsste, dann hätten sie sicher nicht fünf Tage gebraucht, um überhaupt eine Stellungnahme ins Internet zu stellen. "Wir waren einfach wie gelähmt", sagt Matthias Richter.
Sie wollen nicht erschreckt reagieren. Sie sind eine offene Gruppe und wollen sich nicht abschotten, das ist nicht die Gesellschaft, die ihnen vorschwebt. Dennoch wirken sie nun, als habe sie etwas grundsätzlich verstört.
"Wenn man uns schon überwacht", sagt Sven Franke, "wen dann noch alles?"
Sie haben Simon Brenner auf einem Campus-Camp im April dieses Jahres getroffen. Eine Woche lang zelteten sie auf dem Gelände der Universität, machten Lagerfeuer, hielten Vorträge, sahen Filme, kletterten. Von da an kam er zu ihren Treffen. Seinen Standpunkt würden sie mit den Standardidealen beschreiben. Nur wenn die Polizei hart gegen Demonstranten vorging, schien ihn das besonders aufzuregen. Ansonsten war er einfach hilfsbereit. "Wenn irgendwas gemacht werden musste, war er da", sagt Matthias Richter.
Als Sven Franke an jenem Abend mit Simon Brenner und einigen anderen in das Café "Orange" ging, wusste er nicht, was passieren würde. Er hörte nur irgendwann, wie in einem längeren Schweigen auf einmal der Satz nachklang: "Wir wissen dass du Bulle bist."
"Ja, ich bin Bulle."
Es fällt Sven Franke schwer zu sagen, was die anderen erwartet haben. Vielleicht dachten sie, er würde es abstreiten und dann aufstehen, vielleicht, er würde es zugeben und dann aufstehen. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass er gestehen und dann sitzen bleiben würde. Aber so war es.
Er hörte sich ihre Fragen an, und nach einem Zögern, so als müsse er nachdenken, beantwortete er sie. Er sagte, sein Auftrag sei es gewesen, die linke Szene an der Universität zu untersuchen. Er sagte, er halte sie nicht für gefährlich, womöglich täten das aber seine Vorgesetzten. Er sagte, er habe über alle aus der Gruppe Akten angelegt. Sie fragten weiter, aber eigentlich wollten sie nur wissen, wie er Leute, die sich für seine Freunde hielten, an die Polizei verraten konnte und wozu eigentlich.
"Ich musste mich menschlich nicht verstellen", sagte er. "Die Freundschaften waren echt."
So saßen sie um einen Tisch im Café "Orange" in der Altstadt von Heidelberg. Es dauerte nicht länger als eine halbe Stunde. Zwischendrin standen einige von ihnen auf, weil sie sich das nicht mehr mit anhören wollten. Danach hat Simon Brenner noch sein Bier bezahlt und ging hinaus.
"Dass einer so entfremdet von sich leben kann", sagt Matthias Richter, "und das ist dann sein Beruf. Im Grunde tut er mir leid."
Im vergangenen August, es sind Semesterferien, muss Simon Brenner eine Reise mit seiner Freundin unternommen haben, die auch ein Urlaub ist. Sie fahren mit einem VW-Bus nach Frankreich, wo sie auf einem Zeltplatz Freunde treffen, die er offenbar von früher kennt. Die Gruppe ist groß, und allen, die ihn nicht kennen, wird er als "Simon von der Polizei" vorgestellt. Mitte Dezember wird ihn ein Mädchen aus dieser Gruppe auf einem Klezmer-Konzert in Heidelberg unter den Studenten zufällig wiedererkennen. Er bittet sie noch, ihn nicht zu verraten. Aber sie hält sich nicht dran.
Michael Csaszkóczy und Michael Teller sitzen in einem Café am Bahnhof. Sie sprechen für die Antifa Heidelberg, und das schon ziemlich lange. Beide sind Anfang vierzig und schwarz angezogen. Der eine hat keine Haare mehr, aber achtzehn Ringe im Ohr und arbeitet als Lehrer. Der andere trägt Rasta und ist Angestellter in einem Kopierladen. Über Simon Brenner können sie kaum etwas sagen. Sie haben erst mit ihm zu tun bekommen, als an jenem Dezemberabend jemand aus dem Café zu ihnen gerannt kam und sagte: "Wir haben einen Spitzel enttarnt."
"Wir hatten nur fünf Minuten Zeit, uns vorzubereiten", sagt Michael Teller, "aber so eine Chance bekommst du natürlich nur einmal im Leben."
Die Heidelberger Antifa gilt unter deutschen Antifas nicht gerade als harte Truppe. Sie veranstaltet antifaschistische Stadtrundgänge, beteiligt sich an der Armenspeisung und fährt auch mal mit hundert Leuten vor ein Lokal in der Umgebung, von dem es heißt, der Wirt dort sei Nazi. Jedes Jahr, wenn zum Volkstrauertag auf dem Heidelberger Ehrenfriedhof Kränze für die Helden der Wehrmacht niedergelegt werden, erinnert sie auf eigenen Gedenktafeln an die Opfer des Krieges.
Bundesweit aufgefallen ist die Heidelberger Antifa vor sechs Jahren, als das baden-württembergische Oberschulamt Michael Csaszkóczy nicht als Lehrer anstellen wollte, weil er ihr Mitglied war und sie vom Verfassungsschutz als linksextremistisch eingestuft wurde. Er hat dagegen geklagt und in zweiter Instanz recht sowie Schadensersatz bekommen. Während des Prozesses kam heraus, dass er über Jahre beobachtet worden war. Einige dieser Akten hat er bis heute nicht einsehen dürfen.
"Ich gehe davon aus, dass es in meinem Umfeld Spitzel gab", sagt er. "Jetzt hat einer ein Gesicht."
Als die Antifa an jenem Dezemberabend auf Simon Brenner traf, stand er schon auf der Straße. Er wurde von gut einem Dutzend Leuten umringt und machte keine Anstalten wegzulaufen. War er im Café noch von enttäuschten Freunden befragt worden, kam nun Systematik in die Sache. Aktion für Aktion, Name für Name sollte er aussagen, worüber er berichtet hatte und an wen.
Simon Brenner sagte, er arbeite für das Landeskriminalamt und für den Staatsschutz bei der Polizei in Heidelberg. Er nannte für das eine die Abteilung I540, in der verdeckte Ermittlungen geführt werden, und für das andere die Vornamen zweier Beamter, die mit ihm gearbeitet hätten. Vor seinem Einsatz habe er Organigramme der Gruppen gezeigt bekommen, in die er sich einschleusen sollte. Der Einsatz sei auf längere Zeit angelegt gewesen und habe die Antifa zum Ziel gehabt. Regelmäßig habe er seinen Kollegen berichtet.
"Da fiel auch mein Name", sagt Michael Teller.
Er erinnert sich genau, wie Simon Brenner an jenem Dezemberabend auf der Straße in eine andere Sprache verfiel, von "Personensätzen" sprach und "strafrechtlich relevanten Informationen", wie er sich weigerte, seine Dienstnummer zu nennen und den richtigen Namen zu sagen. Stattdessen hielt er seinen Personalausweis nach oben, als würde das etwas beweisen. Dann löschte er aus seinem Handy den Namen jeder Person, über die er berichtet hatte, während alle anderen um ihn standen und mitschrieben, was er sagte.
"Er hat nicht geweint", sagt Michael Teller, "er wirkte nicht mal emotionalisiert."
In den folgenden Tagen meldeten sich dann von überall Genossen, die ihre Solidarität bekundeten und fragten, ob sie bei sich Vorsorge treffen könnten. Michael Csaszkóczy und Michael Teller glauben nicht, dass Simon Brenner der einzige Ermittler gewesen ist. Aber sie laden schon nicht jeden in ihre Gruppe ein. Sie sind nur zwei Dutzend, und mehr als fragen, woher einer kommt, wen er kennt und was er gemacht hat, können sie nicht.
"Absolute Sicherheit gibt es nie", sagt Michael Teller, "und so will man auch nicht denken."
In den vergangenen Tagen sind das baden-württembergische Innenministerium und das Landeskriminalamt von Journalisten zu dem Fall befragt worden. Immer wieder heißt es "kein Kommentar". Als ein Journalist die Handynummer anruft, über die Simon Brenner mit der Polizei in Kontakt gestanden haben könnte, wird am anderen Ende erschrocken aufgelegt. Der Beamte des Staatsschutzes bei der Heidelberger Polizei sagt, dass ein kleiner Beamter gegenüber der Presse keine Stellungnahme abgeben werde, und legt auf. Eine Anfrage der Grünen und der SPD im Landesparlament läuft.
Einen Tag nachdem man Simon Brenner eine E-Mail geschrieben hat, meldet sich unter seiner Adresse eine Gruppe von Hackern, die sich "Spitzel sind das Allerletzte" nennt. Sie bieten Informationen über ihn an, die sie aber weder telefonisch noch per Mail preisgeben wollen, sondern lediglich in einem geheimen Chat, den zu installieren einen halben Tag dauert. Als es so weit ist, stellen sie sich als "linksradikale Hacker" vor, die allerdings nicht einmal sagen wollen, in welcher Hälfte Deutschlands sie leben. Sie schreiben, sie hätten in dem Fall geholfen, weil sie Spitzel nicht leiden könnten.
"Wir leben ohne Chef und Staat und wurden nicht gerufen."
Danach schicken sie den Link eines Dossiers, das nur über ein Passwort zu öffnen ist, das innerhalb von zwei Stunden verfällt. In diesem Dossier finden sich alle Daten, die sie zu Simon Brenner haben. Die Adressen der beiden Wohnungen, von denen er eine offenbar nur benutzt hat, um sich Post dorthin schicken zu lassen. Die Daten seines Personalausweises, seine Bankverbindung, die Handynummer, über die er offenbar Kontakt mit der Polizei hielt, vor allem dann, wenn er auf einer Demonstration oder Blockade war, 47 Mal allein als er im Anti-Abschiebe-Camp in Brüssel war. Das verraten die Einzelverbindungsnachweise, die sich die Hacker ebenfalls besorgt haben. Sie haben sogar den Zugang beim Online-Buchhandel geknackt. Nur die E-Mail-Adresse, die er bei einem linken Anbieter hatte, die ließen sie in Ruhe.
"Aber wir sind da nicht dogmatisch."
Als man ihnen sagt, dass man die Namen der Beamten beim Staatsschutz, die sie nennen wollen, schon kennt, und andeutet, woher, fragen sie, warum man ihnen das verrät, sie hätten nicht danach gefragt. Als man sagt, das wüssten sie doch ohnehin, schreiben sie zurück: "Ist das eine Fangfrage?"
Und so hat Simon Brenner am Ende jedem etwas hinterlassen. Den einen eine Verstörung, den anderen Bestätigung, dem letzten Paranoia.
Gegen elf Uhr abends ging die Befragung auf der Straße dann zu Ende. Es entstand noch jenes Foto, und es fiel dieser Satz, nach dem man nichts mehr von ihm hören sollte. Dann ging der Mann, der sich Simon Brenner nannte, zu seinem Fahrrad, schloss das Fahrradschloss auf und fuhr weg.
Bildunterschrift: Das letzte Foto des Mannes, der sich Simon Brenner nannte, aufgenommen am Abend des 12. Dezember 2010 in Heidelberg
www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,740963,00.html
27.01.2011
Machtkampf an Frankfurter Hochschule Heulende Wölfe, heulende Linke
Von Juliane Frisse
Schleichen "Graue Wölfe" über den Campus der FH Frankfurt - oder verkraften die Wahlverlierer den Machtverlust nicht? Vertreter linker Listen wittern Betrug und rücken die Wahlgewinner in die Nähe von türkischen Extremisten. Die sehen sich verleumdet. Mindestens eine Partei spielt falsch.
Was im Studentenparlament (Stupa) passiert, interessiert Studenten in der Regel wenig. Dabei reden sich die Studentenvertreter in Stupa und Asta im Namen ihrer Kommilitonen die Köpfe heiß. Es geht um Studiengebühren, Semestertickets und Asylpolitik - von der Hochschule bis in die große Politik. Sie kümmern sich um Partys und Campus-Kino-Openairs - und selten bekommen sie dafür ein Dankeschön.
Was Asta-Vertreter aber auch tun: Sie kämpfen mit harten Bandagen um Einfluss und schachern um ihre Pöstchen.
Als das Stupa der Fachhochschule Frankfurt Mitte Januar im zweiten Anlauf einen neuen Ältestenrat bestimmte, eigentlich eine gewöhnliche Gremienentscheidung, wurde es voll im Sitzungssaal. Das Lokalfernsehen schaute vorbei und FH-Präsident Detlef Buchholz vergewisserte sich persönlich, dass es auf seinem Campus "immer demokratisch und friedlich zugeht".
Denn als demokratisch und friedlich konnte man nicht bezeichnen, was in den vergangenen drei Monaten passierte: Am 16. Dezember versuchten die Parlamentarier einen Ältestenrat zu wählen - doch die Sitzung musste nach Beleidigungen und einer Reizgas-Attacke abgebrochen werden, ein Student bekam einen Asthma-Anfall. Wenigstens darüber herrscht zwischen dem eigentlich abgewählten links dominierten Asta und der Hochschulgruppe "Aktive Studentenvertretung" (ASV) Einigkeit.
Bei der weiteren Interpretation steht jedoch Aussage gegen Aussage. Miriam Meurers, Sozialrechts-Studentin und Asta-Referentin, sagt: "Vertreter der ASV stehen den Grauen Wölfen nahe und haben Studierende zur Wahl ihrer Liste gedrängt."
Sevil Gürbüz, Architekturstudentin und Sprecherin der ASV, sagt: "Weil wir die Wahl gewonnen haben, fährt der Asta eine üble Verleumdungskampagne."
Klar ist nur: Mindestens eine der beiden Seiten kämpft mit unfairen Mitteln um die Macht in Stupa und Asta und um 80.000 Euro Haushaltsmittel.
Erdrutschsieg für neu gegründete Liste
Ausgangspunkt des Streits war die Stupa-Wahl Anfang Dezember. Die von Ingenieurs-Studenten neu gegründete Liste ASV hatte dabei auf Anhieb 12 von 25 Sitzen erobert. Zusammen mit den Sitzen der ebenfalls erstmals angetretenen Gruppe "Wirtschaft - Wachstum - Kompetenz" hatte sie damit die linke Mehrheit im Stupa gebrochen.
Eine herbe Schlappe für die "Demokratische Offene Linke Liste" (Dolli) und die "Kulturelle Initiative Studentischer Selbstbestimmung" (Kiss), wie es schien - doch kurz nach dem Urnengang wurden die Wahlen von mehreren Studenten, unter anderem aus dem linken Asta, angefochten. Begründung: "Die ASV hat die Wahlen zum Studierendenparlament massiv beeinflusst", sagt Asta-Referentin Miriam Meurers. "Es wurden Personen mit in die Wahlkabine begleitet und Wahlwerbung in der Nähe der Wahllokale ausgelegt."
Der ASV besteht hingegen darauf, die Wahlen seien fair verlaufen - zumindest auf Seiten ihrer Liste, nicht jedoch auf Seiten der linken Studenten im Asta, sagt Gürbüz: "Während des Wahlkampfs wurden Fotos von mir plakatiert, auf denen ich als Rassistin dargestellt wurde." Deshalb habe sie gegen einen Referenten des Asta Strafantrag wegen Verleumdung gestellt.
Dort wiederum sieht man die Anschuldigung gelassen. "Es gab keine Asta-Plakataktion", sagt Referentin Meurers. Aber: "Einzelne Studierende haben Flyer in Umlauf gebracht, auf denen Screenshots von ihrem (Gürbüz', Anmerkung d. Red.) Facebook-Profil zu sehen waren", von Verleumdung könne also keine Rede sein.
Nun musste also der Ältestenrat entscheiden, ob diese Stupa-Wahl gültig war - und dabei ergab sich das nächste Problem.
Beim Asta glaubt man, die erste Sitzung zur Wahl des Ältestenrats Mitte Dezember sei eskaliert, weil das Stupa in alter Zusammensetzung, also mit linker Mehrheit, das Gremium wählen sollte. Als die Sitzung startete, hätten bereits etwa 50 Besucher auf die studentischen Abgeordneten gewartet, darunter "hochschulfremde, breit gebaute Personen", erinnert sich Meurers.
Reizgas-Attacke: "Einschüchterungsmaßnahme" oder "Inszenierung"?
Sie hätten die Parlamentarier beleidigt und bedroht, eine kurdischstämmige Abgeordnete sei als "PKK-Schlampe" beschimpft worden. Die Sitzung sollte deshalb unter Ausschluss der Öffentlichkeit fortgesetzt werden. Als die ungebetenen Gäste abzogen, hätten sie Reizgas im Raum versprüht. Die Sitzung sei vertagt worden, ASV-Studenten hätten auf die Sitzungssprengung "mit Sekt angestoßen" - "Die Aktion war eine Einschüchterungsmaßnahme", sagt Meurers.
Laut ASV-Sprecherin Gürbüz verlief die Sitzung vom 16. Dezember weit weniger dramatisch. "Die Stimmung war angespannt, aber schlimmere Beleidigungen als 'Halt die Fresse' sind von beiden Seiten nicht gefallen", sagt die Architekturstudentin. Sie glaubt, dass der Reizgas-Anschlag - der betroffene Student hat inzwischen Strafanzeige gegen unbekannt erhoben - eine Inszenierung der Wahlverlierer war. "Es ist doch unlogisch, dass wir die Wahl des Ältestenrats verzögern", sagt sie. "Wieso sollten wir daran ein Interesse haben, dass es noch länger dauert, bis wir ins Amt kommen?"
Noch-Asta-Referentin Meurers bestreitet zwar, dass mit Auszügen aus Gürbüz' Facebook-Profil Wahlkampf gemacht wurde - doch zugleich will der Asta ebenfalls mit der Facebook-Seite von Gürbüz beweisen, dass die türkischstämmige Studentin mit den rechtextremen türkischen "Grauen Wölfen" sympathisiert.
Gürbüz hatte bei Facebook auf der Seite des türkischen Nationalisten Nihal Atsiz "gefällt mir" angeklickt, auch unter einem Foto brennender Flaggen der USA und Israel. Außerdem trage Gürbüz drei Halbmonde als Kettenanhänger, die laut Asta-Referentin Meurers auch im Logo der Grauen Wölfe zu sehen sind.
"Absurd" findet Gürbüz die Vorwürfe. Die ASV wolle lediglich "undogmatische Hochschulpolitik" machen. "Wir sind eine junge, multikulturelle Hochschulgruppe", sagt sie. "Bei uns arbeiten unter anderem Deutsche, Türken und Griechen mit, es ist auch eine Kurdin bei uns." Das Wahlprogramm der Liste liest sich Rassismus-unverdächtig: Die ASV fordert etwa eine intensivere Bafög-Beratung, mündliche Prüfungen für Wackelkandidaten und Meinungsfreiheit unabhängig von Herkunft, Religion und politischer Einstellung.
Ex-Asta-Mitglied: "Gezielt Stimmung gegen die neue Konkurrenz gemacht"
Auch für die fragwürdigen Einträge auf Facebook hat Gürbüz eine Erklärung. "Wer auf Facebook Informationen über jemanden erhalten will, muss 'Gefällt mir' klicken. Mir 'gefallen' deshalb auch viele politische Parteien, denen ich nicht nahe stehe." Das Foto der brennenden Flaggen? Sie sei lediglich darauf verlinkt worden und habe den Link nicht entfernt, "weil ich eine "pro-palästinensische Haltung habe". Unter dem Bild habe sie sich aber von der Flaggenverbrennung distanziert. Und ihre Kette mit dem Monde-Symbol der rechten Partei MHP, deren Anhänger Graue Wölfe genannt werden? "Ein altes, osmanisches Symbol."
Unterstützung bekommt Gürbüz von ihrem Kommilitonen Christoph Henß, der sein Engagement im Asta und im Stupa "wegen der Verleumdungskampagne gegen die ASV" Mitte Dezember aufgegeben hat. Bei den linken Listen Dolli und Kiss sei schon vor der Wahl befürchtet worden, dass die ASV die Macht im Studentenparlament übernehmen könnte, sagt Henß. "Deshalb ist gezielt Stimmung gegen die neue Konkurrenz gemacht worden."
Seine Ex-Kollegin im Asta Miriam Meurers bestreitet das. "Uns ist natürlich bewusst, dass der Eindruck entsteht, wir würden uns an die Macht klammern", sagt sie. "Aber wir müssen verhindern, dass den Grauen Wölfen nahe stehende Personen den Asta übernehmen."
Weniger aufgeregt schaut Fachhochschulpräsident Detlev Buchholz auf die Auseinandersetzungen seiner Studenten. "Durch den bahnbrechenden Erfolg dieser einen Liste sind natürlich viele Emotionen und Nervositäten ausgelöst worden", beschwichtigt er. Jetzt müsse eben der Ältestenrat überprüfen, ob die Wahl korrekt abgelaufen sei. Das wird noch eine Weile dauern. Zu den gegenseitigen Anschuldigungen an seiner Uni will er nichts sagen: "Das ist alles schwer belegbar. Jeder gilt erstmal als unschuldig."
www.fnp.de/fnp/region/lokales/nazifackelzuege-in-bergen_rmn01.c.8623222.de.html
Nazi-Fackelzüge in Bergen Ein Internet-Video zeigt Neonazis auf der Zeil, doch auch im Frankfurter Osten ziehen sie umher
Die Bergen-Enkheimer sind verunsichert seit bekannt ist, dass zwei führende junge Neonazis unter ihnen leben. Sie fragen sich: Entsteht bei uns ein Nazi-Nest?
Bergen-Enkheim. Fragt man die Menschen auf der Marktstraße in Bergen nach den Umtrieben junger Neonazis in ihrem Stadtteil, machen sie erstmal große Augen. Dass zwei Frankfurter Nachwuchs-Nazis in ihrem Stadtteil wohnen, ist ihnen neu. Ans Licht brachten das linke Antifaschisten, die am Samstag demonstrierend durch Enkheim zogen und mit Flugblättern und Randale auf die Bergen-Enkheimer Nazis aufmerksam machten. Kenner der rechten Szene wollen zumindest einen der beiden trotz Maske in einem Internet-Video erkennen. Es zeigt ein kleines Nazi-Grüppchen bei einer «Spontandemonstration» auf der Zeil. Unterdessen sind die Menschen in Bergen-Enkheim verunsichert. Sie wollen mehr über das braune Treiben erfahren.
Seinen Namen in der Zeitung lesen wollte – mit einer Ausnahme – keiner der Befragten auf der Berger Marktstraße. Sie fürchten Probleme. Doch sie alle machen klar, dass sie mit Nazis nichts zu tun haben wollen. Allein Ladislaus Kranitz (78) sagt offen, er habe im Zweiten Weltkrieg schlechte Erfahrungen mit den Nationalsozialisten gemacht und verabscheue sie.
Nächtliche Fackelzüge
Angeblich veranstalteten Neonazis in den letzten Monaten in Bergen-Enkheim zwei nächtliche Fackelzüge. Doch Zeugen zu finden, ist schwer. Die meisten wissen davon nur von anderen, die es von wieder anderen gehört haben. Doch in der Bäckerei auf der Marktstraße treffen wir eine Augenzeugin. Im Oktober 2010 zog ein Grüppchen schwarz gekleideter Gestalten vorbei, mit Springerstiefeln gekleidet und Fackeln tragend – und verschwand schnell wieder.
Beobachter der rechten Szene sprechen von «zwei zentralen Personen der Nationalen Sozialisten Rhein-Main», die in Bergen-Enkheim zu Hause seien. Der eine sei ein in Hanau geborenen 21-Jähriger, der bei der Kommunalwahl im März für die NPD für den Bergen-Enkheimer Ortsbeirat und die Stadtverordnetenversammlung kandidiert. Er soll die «Nationalen Sozialisten Rhein-Main» leiten, die seit 2010 als geschlossene Gruppe auf Neonazi-Demonstrationen in Thüringen, Sachsen und dem Ruhrgebiet auftritt. Der zweite Kopf der Gruppe soll ein 19-Jähriger sein, der schon als Jugendlicher den rechten «Block F» gründete und gut in der Frankfurter NPD vernetzt sei. Im Jahr 2010 sei er nach Bergen-Enkheim gezogen sei. Der harte Kern bestehe aus 20 Personen aus dem Rhein-Main-Gebiet, unter ihnen der Frankfurter NPD-Vorsitzende.
Die Vorsitzende des Vereinsrings Bergen-Enkheim, Gabi Niessner, ist entsetzt. «Und so geht es allen im Vereinsring. Wir sind schockiert, recherchieren fieberhaft. Wir wollen wissen, was dahinter steckt.» Auch sie macht klar: Neonazis seien im Stadtteil nicht willkommen.
«Verschiedene Bürger berichteten, drei junge Männer sammelten Unterschriften für die Kommunalwahl und bezeichneten sich als Nationale Sozialisten», sagt Ortsvorsteher Helmut Ulshöfer (Grüne). Er stellt klar: Die Bergen-Enkheimer würden sich dagegen wehren, ein Neonazi-Stützpunkt zu werden. Er sei sicher, dass die Bürger den Rechten bei der Kommunalwahl die Rote Karte zeigen. (hau)
Artikel vom 26. Januar 2011, 21.50 Uhr (letzte Änderung 27. Januar 2011, 04.13 Uhr)
Leserbrief zum Artikel »Schwieriges Gedenken« in der Frankfurter Rundschau vom 3. Dezember 2010
Anlass für diesen Leserbrief ist die missverständliche Berichterstattung über die Podiumsdiskussion »Erinnerung wachhalten – Gedenkorte gestalten« am Mittwoch, den 1. Dezember 2010.
Laut des Artikels »Schwieriges Gedenken« vom 3. Dezember 2010 hätten wir als Vertreterinnen der Initiative »Faites votre jeu!«, die sich im ehemaligen Polizeigefängnis Klapperfeld unter anderem mit dessen Geschichte befasst, gesagt, der Ort interessiere nicht, sondern es gelte nur die richtigen Fragen aufzuwerfen. Das haben wir so weder gesagt noch gemeint.
Schon unsere Arbeit zur Geschichte des Klapperfelds zeigt, dass wir die Auseinandersetzung mit ›konkreten Orten‹ des historischen Geschehens sehr wohl als wichtig erachten. Allerdings halten wir es für unerlässlich, dass sich eben an diesen ›konkreten Orten‹ kritisch mit der Vergangenheit auseinandergesetzt wird. So ist es richtig, wie im Artikel erwähnt wird, dass wir es wichtig finden, die richtigen Fragen aufzuwerfen. Fragen, die über das historische Geschehen hinaus gehen und Bezüge zur Gegenwart aufzeigen. In diesem Kontext ist auch das Klapperfeld besonders interessant, weil es eine über 100-jährige Geschichte der gesellschaftlichen Ausgrenzung schreibt, die bis in die jüngste Vergangenheit reicht. Eine Beschäftigung mit dieser Geschichte beinhaltet daher auch eine Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Formen der gesellschaftlichen Ausgrenzung. Bei unserer Auseinandersetzung geht es uns nicht um historische Vergleiche, die weder der Analyse der historischen noch der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse dienlich sind. Es geht darum, eine Lehre aus der Geschichte zu ziehen und Brüche aber auch Kontinuitäten deutlich zu machen. Eine der wesentlichen Fragen, die sich bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte ergibt, ist die nach Handlungsspielräumen innerhalb einer Gesellschaft, um sich Ungerechtigkeiten und Repression widersetzen zu können.
Darüber hinaus ist es uns in Bezug auf die historische Auseinandersetzung und das Gedenken besonders wichtig, genauer hinzusehen, mit welcher Intention diese stattfinden, denn zunehmend geschieht beides im Sinne der Nation. Die Nation ist eine per se auf Ausschließung basierende Gesellschaftsform. Eine Lehre, die aus dem Geschichte gezogen werden muss, ist die, dass Nationalismus grundsätzlich zu kritisieren ist. In den letzten Jahren wurde jedoch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und das Gedenken an dessen Opfer immer häufiger instrumentalisiert – zur Stärkung nationalistischer Diskurse und/oder zur Rechtfertigung aktueller politischer Interventionen (z.B.: Begründung für den Kriegseinsatz deutscher Truppen im Kosovo). Eine kritische Auseinandersetzung ist folglich von staatlicher Seite kaum zu erwarten. Ein Grund, warum Orte kritischer historischer Auseinandersetzung jenseits staatlicher Abhängigkeiten und Einflussnahme besonders wichtig sind.
Geschlossen
Die Europäische Zentralbank als Ort der Erinnerung an die Judenverfolgung zwischen 1933 und 1945 rückt in immer weitere Ferne. Der Ort scheint seiner historischen Wirkung nun endgültig beraubt.
Mag sein, dass man sie gar nicht baut. Je länger diskutiert wird, desto mehr scheint die Errichtung einer Erinnerungsstätte an der Großmarkthalle in Frage gestellt zu werden. Eine Debatte zum Thema »Gedenkorte (für morgen) gestalten« am Mittwochabend im Haus am Dom hat jedenfalls mehr Zweifel als Überzeugung zutage gebracht.
Der Keller, der zum Sammellager wurde, die (eingelagerten) Eisenbahngleise, auf denen Juden-Transporte gen Osten rumpelten, und das Stellwerk, aus dem die Abfahrt ins Lager gelenkt wurde – diese Erinnerungsstücke gibt es noch. Alle mit dem Bau einer Erinnerungsstätte befassten Architekten nehmen sie als Eckpunkte für ihre Entwürfe. Sie mühen sich ab, die Teile durch die Sicherheitsanlagen der Europäischen Zentralbank hindurch so zusammen zu bringen, »dass sich Bezüge zur Deportation herstellen«, wie Marcus Kaiser vom Kölner Büro »Katzkaiser« in der von den Grünen organisierten Veranstaltung sagte.
Info vor Ort
Und je mehr dazu ausgeführt wurde, je deutlicher war: Das klappt nicht. Schon weil der Sammelkeller künftig nur noch aufgesucht werden kann, wenn die neue Grundstückseigentümerin Europäische Zentralbank Führungen zulässt. Aber auch, weil »vieles verschwunden ist« auf dem Gelände, wie der Berliner Architekt Cyrus Zahiri sagte.
Die Halle ist nur noch ein nacktes Gerippe, die Aura des Authentischen ist dahin. Nikolaus Hirsch, Gedenkstättenbauer und Direktor der Städelschule, hakte ein: Solle sich »an einem Ort etwas manifestieren«, dann müsse »von dem Ort noch etwas da sein«. Der Ort Großmarkthalle, das sei »jetzt einfach die EZB«, »der Ort spricht nicht mehr aus sich heraus«. Und bald stehe ein riesiges Hochhaus da. Der Sozialpsychologe Harald Welzer wunderte sich ohnehin, »dass man diese Räume so auratisiert; mir ist der Keller total egal«. Möglich, dass man »einen Zipfel braucht, an dem man das Gedenken aufhängen kann«. Weder Taten noch Täter kämen aber nur an einem bestimmten Ort vor; der Prozess von Ausgrenzung und Vernichtung habe alle und alles berührt: »Der Holocaust«, sagte Welzer, »findet in den Küchen statt«. Und das müssten alle erfahren, darüber gelte es zu informieren, stellten am Tisch die jungen Frauen von »Faites votre jeu« heraus, die sich im historischen Klapperfeld um eben dies bemühen.
Der Ort interessiere nicht, es gelte, »die richtigen Fragen aufzuwerfen«, meinte Katharina Rhein. Und für ihre Mitstreiterin Mirja Keller käme am Sitz der EZB doch nur »kameraüberwachtes Gedenken mit gut auswendig gelerntem Betroffenheits-Vokabular« heraus. Was den Architekten Zahiri zum Widerspruch reizte. Auch Raphael Gross, Direktor des Jüdischen Museums, hatte Zweifel: »Sobald man weiß, was da passiert ist, verändert sich ein Ort.« Klar sei aber auch ihm: »Das Wissen spielt die Hauptrolle.« Erinnerungsstätte
Im Keller der Großmarkthalle wurden ab 1941 jüdische Frankfurter eingesperrt, bevor man sie von dort aus mit Güterzügen aus der Stadt deportiert hat. Im NS-Sprachgebrauch war die Rede von »Judenevakuierungen«.
Seit die Händler die Großmarkthalle 2004 geräumt haben, wird aufs Neue die Einrichtung einer Erinnerungsstätte diskutiert. Drei Entwürfe dafür hat eine Jury in diesem Frühjahr ausgesucht. Diese Architekturbüros überarbeiten jetzt die Vorschläge. Das Hallen-Grundstück wird von der EZB neu bebaut. (clau)
»Es war ein anderes Leben«
Es war ein anderes Leben als eine Gruppe deutsch-jüdischer Kinder 1939 aus Deutschland entkommen war und in Palästina ankam. Der Dokumentarfilm »Es war ein anderes Leben« (Deutschland 2008, 41 Min.) beschreibt die Geschichte dieser Gruppe anhand der Lebensgeschichten der Einzelnen, die alles zurückließen, was für sie Alltag und Gewohnheit gewesen war und die ihre Familien verloren. Er erzählt von dem neuen anderen Leben, das die Gruppe formte, mit dem die Gruppe das neue Land mitaufbaute. Die Geschichte führt über das Internat in Nord Talpiot und die Entscheidung, sich der Kibbuzbewegung anzuschliessen, bis hin zur Gründung und zum Aufbau des eigenen Kibbuz: Maagan Michael. Hinter dieser Geschichte kommt das Werk von Recha Freier in den Blick. Recha Freier hatte die Jugend-Alijah gegründet, mit der die Gruppe nach Palästina gekommen war. Diese zionistische Einwanderungsorganisation rettete etwa 10.000 Kinder aus Deutschland.
Die Interviews mit vier Mitgliedern der Gruppe, mit der ehemaligen Madricha/Betreuerin der Gruppe, Elly Freund, und mit der Tochter von Recha Freier, Maayan Landau, lassen die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven lebendig werden. Persönliche Kommentare zu Fotos und Archivmaterialien machen die Vergangenheit vorstellbar. Ausschnitte aus dem täglichen Leben der mittlerweile mehr als 50 Jahre älteren Gruppenmitglieder in ihrem Kibbuz zeigen, wohin das »andere Leben« bis heute geführt hat.
Malen nach Zahlen
Thilo Sarrazin behauptet, niemand bestreite seine Berechnungen. Jetzt legen Berliner Forscher Gegenrechnungen vor. Aus Statistiken und Umfragen ziehen beide Seiten nur, was ihnen passt.
Wir leben in einer Gesellschaft, die ihre Urteile über das, was in ihr vorgeht, stark auf Statistiken und Umfragedaten gründet. Zugleich sind Statistiken und Umfragen fast stets ein Rätsel. Was nicht nur an fehlendem, mangelhaftem oder vergessenem Statistikunterricht liegt. Sondern auch an den Statistiken selbst, die nicht selten völlig blind Informationen verbreiten, undeutbare Zahlen, bloße Meinungen, man kann auch sagen: fast beliebig interpretierbare Daten. Soeben hat ein Forschungsprojekt der Berliner Humboldt-Universität eine Broschüre zur Widerlegung des Zahlenmaterials herausgegeben, das Thilo Sarrazin in seinem Deutschlandbuch heranzieht, um eine muslimische Bildungsmisere unter Migranten zu belegen. Die Autoren sind dabei nicht wählerisch. Wenn sie irgendwo eine Zahl finden, die von denen Sarrazins abweicht, beweist sie ihnen dessen Irrtum. Wie die Zahl zustande kam und worüber sie informiert, interessiert sie dagegen so wenig, wie es Sarrazin über weite Strecken tat.
Was etwa fängt man mit ihrer Auskunft an, die Menschen mit türkischem Migrationshintergrund heute hätten gegenüber den ersten Einwanderergenerationen eine Zunahme an hohen Bildungsabschlüssen um 800 Prozent zu verzeichnen? Das sagt vor allem, dass unter den sogenannten Gastarbeitern so gut wie keine Leute mit Hochschulreife waren - was einige Seiten später konzediert wird. Wie ist ihre Kritik an Sarrazin zu verstehen, zwar kämen tatsächlich auf einhundert erwerbstätige muslimische Migranten 43, die Sozialtransfers empfangen, aber man müsse die Zahl in Relation zur Gesamtbevölkerung mit türkischem Hintergrund setzen? Dann sei der Anteil der Hartz-IV-Empfänger nur noch 9,5 Prozent. Hellt sich denn die Lage der von Arbeitslosigkeit gezeichneten Migrationsbezirke auf, wenn man die Rentner, die Hausfrauen und die Schüler, also die Familiengröße derjenigen, die Arbeit haben, mit einbezieht?
Oder was macht man mit Thesen wie der, bei gleichem sozioökonomischem Status und gleichen Noten hätten Schüler mit türkischem Migrationshintergrund "eine fast fünfmal so hohe Chance, in das Gymnasium überzugehen als Schüler ohne Migrationshintergrund"? In der Studie, aus der sie zitiert wird, heißt sie: Die schwächeren Leistungen türkischstämmiger Schüler gehen auf die soziale Lage ihrer Eltern zurück. Bei gleich hoher Leistung aber werden sie nicht diskriminiert. Zusammenhänge mit Religion oder Kultur wurden in jener Studie gar nicht untersucht. Man hat nicht den Eindruck, als verstünden die Sarrazin-Überprüfer wesentlich mehr von Soziologie als Sarrazin selbst. Sie folgen einem unverstandenen Zahlengestöber genauso wie er, mal treuherzig, mal strategisch, nur halt in der Gegenrichtung.
Nehmen wir ihr Zitat einer Allensbach-Studie, der zufolge siebzig Prozent der gut 300 befragten türkischen Zuwanderer, die älter als sechzehn Jahre waren, sehr gute oder gute Deutschkenntnisse besitzen. Wie passt das zu den soeben noch konstatierten, sozioökonomisch bedingten Leistungsrückständen? Die Einschätzungen der Deutschkenntnisse nahmen hier die Interviewer vor, von ihren Kriterien erfährt man nichts. Daten über die Deutschnoten oder ein paar Schulbesuche wären auskunftsreicher.
Wie aber soll man überhaupt verstehen, dass laut derselben Studie siebzig Prozent der Befragten mit türkischem Hintergrund gut und sehr gut Deutsch sprachen, aber 45 Prozent derselben Befragten eigenem Bekunden nach zu Hause kein Wort Deutsch sprechen, 56 Prozent sich in Vereinen engagieren, in denen die Mitglieder überwiegend oder ausschließlich Zuwanderer sind und 49 Prozent einen ganz überwiegend nichtdeutschen Freundeskreis haben? Nicht, dass das Erlangen und der Erhalt guter Deutschkenntnisse ausschließlich durch Unterrichts- oder Geschäftsgespräche undenkbar wäre. Aber wie wahrscheinlich ist das? Über die Beziehung des Datensalats zur sozialen Wirklichkeit wird nicht eine Sekunde reflektiert. Man greift sich je nach politischem Geschmack eine Untergangs- oder Aufstiegsziffer heraus und hält die eigene Sache damit für bewiesen.
Durchaus trifft die Berliner Broschüre dabei den amateurhaften Umgang mit Forschung bei Sarrazin. Dieser entnimmt etwa einer Bertelsmann-Studie, in der gefragt wurde, ob eine muslimische Frau ein Kopftuch tragen sollte, die Antworten je nach Alter der Befragten die Information darüber, wie viele muslimische Frauen ein Kopftuch tragen. Das ist abenteuerlich, nicht zuletzt, weil die Prozentzahlen ja auch durch Antworten von Männern zustande gekommen sind.
Aber was machen die Berliner Autoren ihrerseits mit dem Befund der Studie, 38 Prozent der muslimischen Frauen plädierten für das Kopftuch und die jüngeren mehr als die älteren, wenn sie ihn neben den Bericht "Muslimisches Leben in Deutschland" legen, auf den sie sich auch berufen? Ihm zufolge ist der Anteil der kopftuchtragenden Musliminnen bei den Älteren höher und beträgt bei den Sechzehn- bis Fünfundzwanzigjährigen nur 22 Prozent? Welche Tendenz soll es denn nun sein? Gibt es hier eine doppelte Zitiermoral? Oder gibt es eine doppelte Umfragemoral: Gefragt, ob eine Frau das Tuch tragen sollte, sagt sie ja, gefragt ob sie es tue, sagt sie nein? Vielleicht ist aber ganz generell Zurückhaltung gegenüber Umfragen geboten, die beispielsweise den Anteil der Kopftuchträgerinnen in der Altersgruppe "0 bis 10 Jahre" in ihre Kalkulationen einbezieht? Wie viele Fünfjährige mitgeteilt hatten, sie trügen kein Kopftuch, bleibt offen. Von der Bildung von Vorurteilen - ganz gleich in welcher Richtung - auf der Grundlage solcher Auskünfte muss abgeraten werden.
"Muslimisches Leben in Deutschland" berichtet übrigens, "häufige Kontakte" mit Deutschen hätten in ihrem Freundeskreis siebzig Prozent der Muslime. Das lasen wir soeben bei Allensbach noch anders. Man kann also fast beliebig auf Umfragen oder Statistiken zugreifen, die miteinander nicht vergleichbar sind und mal dies, mal das herausfinden, ohne dass es dem Glauben an diejenigen, die mit ihnen herumwinken, abträglich wäre. Man kann es vor allem, wenn man realistisch einschätzt, wie wenige Leser Lust darauf haben, sich stundenlang durch das demoskopische, ökonometrische und soziologische Durcheinander zu wühlen, das hier als Empirie aufgeboten wird. Wenn mit gar keinen Lesern dieser Art gerechnet wird, dann kann man sogar für die Behauptung, zwischen muslimischer Zugehörigkeit und jugendlicher Gewalt bestehe kein Zusammenhang, eine Studie des Bundesfamilienministeriums aufrufen, die unter den vielen Faktoren einer überproportionalen Gewaltaffinität bei Jungen und Mädchen ausdrücklich auch deren islamische Sozialisation festhält.
JÜRGEN KAUBE
(c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
-------------------------------------------------------------------------------------- Ressort: Natur und Wissenschaft Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.10.2010, Nr. 246, S. N3
Kein Werturteilsstreit beim Soziologentag -------------------------------------------------------------------------------------- Fragmentiertes Bewundern sozialer Vielfalt: Die Disziplin zerfällt in einzelne Studien, oft zu lokalen Phänomenen, und ein professionelles Selbstbewusstsein ist nur noch schwer zu finden.
Es fing alles mit Streit an. Als die deutschen Soziologen sich am 19. Oktober 1910 in Frankfurt zur ersten Jahrestagung ihres soeben gegründeten Verbandes trafen, war es zunächst Streit ums erste Rederecht. Georg Simmel und Ferdinand Tönnies, die einander nicht leiden konnten, beanspruchten es beide. Max Weber hatte die Lösung: Simmel sprach am Vorabend, passenderweise zur "Soziologie der Geselligkeit", Tönnies eröffnete die offiziellen Sitzungen. Die endeten mit einem Eklat, als Tönnies einen Redner mit Hinweis auf die Satzung der "Deutschen Gesellschaft für Soziologie" (DGS) unterbrach, deren erster Paragraph auf Drängen des werturteilsempfindlichen Weber jede politische Propaganda in Vorträgen untersagte.
Beim diesjährigen Jubiläumskongress der Soziologen in Frankfurt, der unter dem Titel "Transnationale Vergesellschaftung" stattfand, erinnerte Rainer M. Lepsius, der Doyen des Faches, auf heiter-belehrende und sehr gewinnende Weise an diese Gründungsumstände der Fachgesellschaft. Man hätte ihn danach, wenn es nicht der Respekt verböte, am liebsten durch ihre heutigen Sitzungen geschickt. Mit einem Werturteilsmessgerät, einem Propagandameter. Denn die Lage der Disziplin, die sich während eines solchen Riesenkongresses mit Hunderten von Vorträgen gut zeigt, ist durch ihren Abstand von solchen älteren Einstellungen gekennzeichnet.
Da sind zum einen die vielen Werturteilsfreudigen. Ob es um Migranten geht, um Hartz IV-Empfänger oder um Jugendliche - die Soziologie zeigt sich als daumendrückende Disziplin. Der Witz, den der amerikanische Soziologe Michael Burawoy machte, in seiner Heimat verwechselten Politiker Soziologie mit Sozialismus oder Sozialhilfe, war insofern ungewollt komisch: denn hier tun das viele Soziologen selber. Stefan Lessenich (Jena) etwa steuerte zu einer Vortragsrunde mit kritischen Krisendiagnosen eine Auflistung aller Vorurteile bei, die der "Bourgeois" heute gegenüber der "Versorgungsklasse" habe. Gemeint sind Zuwendungsempfänger aus den Wohlfahrtssystemen, die sich jetzt also schon als Klasse angesprochen fühlen dürfen. Lessenich machte sich zum Verteidiger dieser bunten Gruppe - Rentner, Kranke, Mütter, Väter, Arbeitslose, Sonderforschungsbereiche - gegenüber dem Ansinnen, man könne auch selbst etwas für sein Lebensglück tun. Schon die Riester-Rente hielt er für einen abgefeimten neoliberalen Schachzug, weil nun jeder, der nicht fürs Alter spare, Vorwürfen ausgesetzt sei. Geforscht haben muss man für solche Urteile nicht, es sind politische.
Mitunter schlägt die Wertungsfreude auch in die Methode. Dann kommt es beispielsweise zu Vorträgen über Finanzmarktakteure, in denen mitgeteilt wird, dass es sich dabei um eine Art Mafia handelt. Kann sein, oder auch nicht. Die Empirie dazu bestand weitgehend aus Zeitungsartikeln. Jürgen Beyer (Hamburg) plauderte über die Immobilienkrise und Betrügereien im Investmentbanking, als wisse er, wer sich da mit wem in welcher Absicht zum Abendessen getroffen hat. Die These seines Vortrags war, der Markt sei gar nicht so anonym, wie immer getan werde. Dem kann man beipflichten. Doch ist die Finanzklatschpresse als Beweisgrundlage dafür wenig informativ, weil sie als Presse natürlich gern personalisiert. Und da man für einen Betrug auch Betrogene braucht, lief die Krisenerklärung auf "Dummheit" hinaus. Wie eine Bank oder Börse sozial funktioniert, wird man von einer Soziologie, die es schon aus der Zeitung weiß, nicht erfahren.
Legenden der Globalisierung
Es war in der gleichen Sitzung Renate Mayntz (Köln) vorbehalten, auf die immensen Schwierigkeiten hinzuweisen, die Banken und Börsen selber damit haben, sich transparent zu sein. Krisenerklärungen aus unangenehmen Eigenschaften des Personals verböten sich, weil nicht einmal die Eigenschaften der Krise begriffen seien. Ähnlich aufklärend wirkte der - allerdings schon publizierte - Vortrag von Michael Hartmann (Darmstadt), der die Legende von den kosmopolitischen Eliten im Unterschied zum lokalen Normalvolk attackierte.
Hartmann hat sich die Herkunft von Vorstandsmitgliedern der größten Unternehmen angeschaut und ist weltweit auf denkbar wenig Auslandserfahrung gestoßen. Das Spitzenpersonal macht nach wie vor nationale Karrieren, die entweder vom Bildungssystem oder dem Firmenstil (Hauskarriere) geprägt sind. Offen blieb dabei, ob der Kosmopolitismus der Eliten nicht mehr als eine Frage der Herkunft eine ihrer mentalen Angleichung an ein weltweites Spitzenkraftgerede ist, das auf Dienstreisen und durch das Anhören von Vorträgen erworben wird. In diesem Sinne war der Vortrag von Craig Calhoun (New York) zu verstehen, der nun seinerseits nicht mit Wertaburteilungen des Jetsets, jedenfalls des nichtsoziologischen Jetsets sparte.
Oder nehmen wir das Thema ethnischer und religiöser Konflikte. Ein voller Saal hörte jeweils Ferdinand Sutterlüthy (Frankfurt) und Janine Dahinden (Neuchatel) zu, die Studien zu Vorurteilen gegenüber Muslimen vortrugen. Die Deutschen, so Sutterlüty, redeten dabei so, als seien sie untereinander verwandt und müssten sich als Verwandtschaftsgruppe gegen Türken behaupten. In der Studie aus Neuchatel waren Jugendliche unter anderem gefragt worden, wie sie es fänden, wenn ihre Geschwister einen muslimischen Partner heiraten würden. Die Antwortmöglichkeit "kommt auf die Person an" gab es nicht, also fanden es die Schweizer pauschal gar nicht weiter bedenklich. Nur dass sie eine Heirat mit einem Italiener oder Juden pauschal noch unbedenklicher fanden, was wiederum die Studie bedenklich fand.
In beiden Fällen kam aber weder bei den Autoren noch im Publikum auch nur die Frage auf, wie es denn umgekehrt mit den mythischen Verwandtschaftsgefühlen und der Unbedenklichkeitserklärung für Heiraten über die Religionsgrenze hinweg bei den muslimischen Jugendlichen aussieht. Das Vorurteil scheint in Kraft, dass Minderheiten selber keine Vorurteile haben und dass man nicht einmal die Gegenprobe machen muss. Die Schweizer Studie zeigt überdies, wie man "ethnisches Kategorisieren" in die Leute geradezu hineinfragen kann. Was soll man denn daraus schließen, wenn einer allen Ernstes ankreuzt, er fände es "sehr gut", wenn sein Bruder eine Italienerin heiratete? Untersuchungen dieses Typs sollten unbedingt auch noch ermitteln, ob es die Befragten doppelt so gut fänden, wenn der Bruder zwei Italienerinnen heiratet.
Sagen von Graffitisprayern
Neben der Wertungsfreude und dem Verwechseln von Methode mit sozialer Wirklichkeit ist ein drittes Merkmal der gegenwärtigen Soziologie ihr eigenartiges Verhältnis zur Vergangenheit des Faches. Pierre Bourdieu hat einst gefordert, es solle sich nur zu Wort melden, wer sich das kollektive Wissen der Disziplin angeeignet habe. Von einem solchen Bewusstsein erreichter Standards ist die Soziologie einerseits weit entfernt, weil zum Vortrag auf Soziologentagen inzwischen praktisch jeder zugelassen wird, der an einer Qualifikationsarbeit sitzt. Darin läge gar kein Problem, wenn nicht die besinnungslose Graduiertenförderung dazu geführt hätte, dass Hunderte junger Leute, die sich mit fast wahllos ergriffenen Spezialthemen befassen, die sie für die ihren halten, ohne jeden Bezug zu allgemeinen Forschungsfragen einfach nur Kenntnisse anhäufen.
Die Soziologie zeigt sich hier als Parasit der sozialen Differenzierung. Jedes Submilieu, jedes Ding und jede Handlungsart erhält inzwischen einen eigenen Soziologen, der über sie schreibt. Entsprechend kann man auf Soziologentagen Aberdutzende von Vorträgen mit vollkommen von aller anderen Soziologie isolierten Studien hören - etwa über Graffitisprayer in Sachsen und dem Elsass, die Geschichte des Crashtests, das Museum am Checkpoint Charlie, die Fans der Musikrichtung "Hardcore" oder "Transnationale Online-Kommunikation über den Fall John Demjanjuk".
Hans-Georg Soeffner (Essen) hatte in seinem Eröffnungsvortrag völlig zu Recht betont, wie wenig von einerSoziologie zu halten wäre, die zur Kulturwissenschaft würde, also zum theorielosen und fragmentierten Bewundern sozialer oder historischer Komplexität. Was überdies aus Leuten werden soll, die fünf Jahre ihres Lebens auf die Erschließung einer fast problemlosen Empirie verwenden, mit der danach nie wieder jemand etwas anfängt, ist eine verantwortungsloserweise ungestellt bleibende Frage.
Auch die Frage nach den Standards richtet sich nicht an den Nachwuchs. Sondern an die Arrivierten, die jeder Diskussion, worin Standards bestehen könnten, aus dem Weg gehen. Es wird praktisch nichts mehr negiert, außer dem Neoliberalismus, aber der war ja recht eigentlich auch kein soziologischer Theorievorschlag. Deshalb kann auch so gut wie alles noch einmal diskutiert werden. Es gibt in diesem Fach derzeit keinen Stand der Erkenntnis. Die Streitlust der Altvorderen wirkt insofern tatsächlich überholt. Denn wozu streiten, wenn schon aus Gründen der Inklusion am Ende doch alles durchgeht? Die Tagung über transnationale Vergesellschaftung war insofern auch eine über disziplinäre Vergemeinschaftung.
JÜRGEN KAUBE
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