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fehe



Turkish Power Boys: Zur Interpretation einer gewaltbereiten Subkultur

 

hermann.tertilt.info/tpb/aufsaetze/2.htm

 

 

Eure Werte

 

Ich habe meine eigenen Werte

ich brauche eure Werte nicht

ich schau den Menschen ins Innere

und nicht in ihr Gesicht

 

Ich kämpfe für meine Rechte

die ihr mir nehmen zu dürfen glaubt

und stehe auf der Seite jener

denen ihr die Rechte raubt

 

Eure Werte gehören einer Ordnung an

in der die Freiheit fehlt

meine dagegen dem Zusammenleben

wo der Mensch auch als ein solcher zählt

 

Ich bin ein Feind dieser Ordnung

und habe mich gegen sie verschworen

und erst mit ihrem Ende

werde ich wiedergeboren

 

Ihr teilt die Welt in viele Teile

bis sie auseinanderbricht

ich aber öffne die Grenzen

denn ich brauche eure Werte nicht

 

Hayrettin

Hayrettin, der 17jährige Autor dieses Gedichts, gehörte zu den "Turkish Power Boys", einer Jugendbande, die sich 1990 in Frankfurt gegründet hatte. Nicht durch Gedichte, sondern durch gewaltsame Überfälle auf deutsche Jugendliche war diese Bande in die Schlagzeilen geraten. Dazu zählte eine Serie von Straßenraubüberfällen im Herbst 1990. Mitglieder der Bande hatten in über 40 Fällen deutsche Jugendliche brutal zusammengeschlagen und ihnen die Jacke geraubt.

 

Gruppierungen wie die Turkish Power Boys gibt es seit Ende der 80er Jahre in fast allen deutschen Großstädten. Sie zeichnen sich durch Gewaltbereitschaft und eine vielseitige Delinquenz aus. Zwar sind gewaltbereite Jugendcliquen ein altbekanntes Phänomen in der Geschichte der Bundesrepublik, neu aber ist ihre ethnische Zusammensetzung und ihr ethnisches Selbstverständnis. Denn in den vergangenen Jahren sind es zunehmend Jugendliche aus der zweiten Einwanderergeneration, die, oft in einer multinationalen Zusammensetzung, als delinquente Gruppen in Erscheinung treten. Und sie provozieren Konflikte, die nach ethnischen Kriterien verlaufen. Hayrettins Gedichte wie auch seine Mitgliedschaft in der Bande sind ein lebendiges Zeugnis dafür, wie Migrantenjugendliche, die durch Ethnie und Unterklasse definiert sind, die deutsche Mehrheitsgesellschaft und ihre (Mittelstands-)Werte ablehnen bzw. herauszufordern versuchen.

 

Welche Rolle der Faktor "Ethnizität" im Leben dieser Jugendlichen spielt, habe ich am Beispiel der Turkish Power Boys untersucht und als Ethnographie einer Jugendbande veröffentlicht.(1) Über zwei Jahre beobachtete ich die Turkish Power Boys aus nächster Nähe, nahm an ihrem Alltagsleben teil und führte zahlreiche Einzel- und Gruppeninterviews. Fast jeden Nachmittag verbrachte ich mit den Jungen, traf mich mit ihnen in Kneipen, aß und trank mit ihnen, spielte mit ihnen Tischfußball und Billard, ging dahin, wohin sie gingen, besuchte ihre Parties, ihre Familien, ihre Gerichtsverhandlungen, besuchte einige der Jugendlichen im Knast. Ich bediente mich ethnographischer Methoden, nutzte die Möglichkeiten der Feldforschung und der teilnehmenden Beobachtung, um den subkulturellen Besonderheiten, den Überzeugungen und Praktiken dieser türkischen Jugendbande auf die Spur zu kommen. Die Frage der Ethnizität bewegte sich im Spannungsfeld dreier Kulturen: der deutschen Aufnahmegesellschaft, der türkischen Herkunft der Eltern und der Subkultur der Bande, in der die Jugendlichen eigenständige Orientierungen und Verhaltensweisen entwickelten. Mein Forschungsinteresse war nicht allein auf das Verständnis ethnischer Gewaltkonflikte, sondern umfassend auf die Lebenssituation der Jugendlichen und ihre soziale Lage als Angehörige der zweiten Migrantengeneration gerichtet. Ihre Sichtweisen, ihr Blick auf die eigene Welt und die Welt der anderen, standen für mich im Mittelpunkt. Der verstehende Ansatz, den ich für meine Untersuchung wählte, verdankt sich den ethnographischen Arbeiten einer "interpretativen Anthropologie", die sich schwerpunktmäßig in den USA entwickelt hat.

 

Mit dem Wissenschaftsverständnis dieser anthropologischen Richtung, ihren kulturtheoretischen Annahmen und methodischen Problemen setzt sich der erste Teil dieses Beitrags auseinander. Dabei zeige ich auf, welche Konsequenzen die verstehenden Methode für mein eigenes Vorgehen hatte. Die Darstellung und Interpretation ethnisch motivierter Gewalt erfolgt im zweiten Teil des Beitrags. Ich sehe im Gewaltverhalten den Versuch von Migrantenjugendlichen, das erniedrigende Selbstbild zu zerschlagen, mit dem sie in der deutschen Gesellschaft konfrontiert werden.

 

I. Interpretative Anthropologie

 

Eine interpretative oder auch hermeneutische Anthropologie beansprucht, fremdkulturelle Phänomene, die der Feldforscher zuvor auf dem Weg der teilnehmenden Beobachtung erschlossen hat, angemessen interpretieren und darstellen zu können. Der Kulturbegriff, auf den sich ein solcher Ansatz stützt, sieht menschliches Verhalten in der sozialen Wirklichkeit untrennbar mit den Bedeutungen verbunden, die die Akteure ihrem Verhalten beimessen. Die Angehörigen einer jeden Kultur erschaffen sich in Handlungs- und Kommunikationszusammenhängen ihre eigene bedeutungsvolle Welt. Kultur ist dieser Auffassung zufolge, wie Clifford Geertz in Anlehnung an Max Weber formulierte, jenes "selbstgesponnene Bedeutungsgewebe", in das die menschliche Existenz verstrickt ist. Die Untersuchung von Kultur, so Geertz, ist daher "keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutung sucht."(2)

 

Großen Einfluß auf das Selbstverständnis der interpretativen Anthropologie hatte vor allem die hermeneutische Philosophie Hans-Georg Gadamers. Seine Leistung bestand darin, daß er die Bedingungen aufzeigte, unter denen Verstehen möglich ist. Dazu gehören die Standortgebundenheit des Interpreten, die Tradition, in der er sich befindet, seine Vorurteile und sein geschichtlicher Horizont, die unweigerlich in jede Interpretation miteinfließen. Diese Bedingtheit wertet Gadamer keineswegs als Übel, sondern als notwendige Voraussetzung des Verstehens, die es produktiv zu nutzen gilt. Denn nicht Vorurteile sind es, sondern gerade deren Leugnung, die das Verstehen behindern. "Wer seiner Vorurteilslosigkeit gewiß zu sein meint", schreibt Gadamer, "indem er sich auf die Objektivität seiner Verfahren stützt und seine eigene geschichtliche Bedingtheit verleugnet, der erfährt die Gewalt der Vorurteile, die ihn unkontrolliert beherrschen, als eine vis a tergo."(3) Der eigentümliche Prozeß des Verstehens, der vom Ganzen zu den Teilen und von den Teilen zurück zum Ganzen geht, kommt erst dadurch zustande, daß der Interpret aufgrund von Vormeinungen das Sinnganze vorwegnimmt, also schon mit gewissen Erwartungen einen Text (bzw. eine Kultur) auf einen Sinn hin liest. Diese Vormeinungen müssen sich im Verstehensprozeß ständig korrigieren lassen und in ihrer jeweiligen Revision neu bewähren.(4) Eine gelungene und nachvollziehbare Interpretation ist dabei keineswegs mit objektiver Wahrheit gleichzusetzen. Auch andere Deutungen sind möglich und können - je nach verändertem Horizont und Perspektive - ebenfalls zu überzeugenden Interpretationen gelangen. Dies hat nichts mit Willkür oder Beliebigkeit zu tun, sondern mit der grundsätzlichen Standortgebundenheit des Verstehens.

 

Gadamers Philosophie des Verstehens gewann besondere Attraktivität für die Erforschung fremder Kulturen und wurde seit Ende der 60er Jahre vor allem in der amerikanischen Anthropologie rezipiert und weiterentwickelt. Ich möchte drei Überlegungen aufgreifen, die diesen Einfluß deutlich machen.

 

1. Es hat sich in der Ethnographie die Erkenntnis durchgesetzt, daß jede Deutung einer fremden Kultur oder Subkultur vom kulturellen Standort des Interpreten abhängig ist. Das Bild einer fremden Kultur zeichnet sich - zumindest implizit - vor dem kulturellen Hintergrund des Forschers ab. Die Darstellung des Fremden ist also eng verknüpft mit der Vorstellung, die der Ethnograph von seiner eignen Welt hat. Fremd- und Selbstbild sind nicht voneinander unabhängig, sondern zwei Seiten einer Medaille.

 

2. Bei der Interpretation von Kultur wird nicht das Abbild einer beobachterunabhängigen Wirklichkeit erstellt, sondern im Austausch mit den Untersuchten wird ein fremder Sinnzusammenhang rekonstruiert. Ethnographien haben damit den Status von Konstruktionen und nicht von realistischen Objektbeschreibungen. Dieses hermeneutische Selbstverständnis der interpretativen Anthropologie führte zur Dekonstruktion des naiven Realismus, der noch in den klassischen Ethnographien vorgeherrscht hatte.

 

3. Die Validität von interpretativen Aussagen bemißt sich an ihrer Kohärenz im gesamten Deutungszusammenhang. Logische Kohärenz als alleiniges Gütekriterium reicht jedoch für eine interpretative Anthropologie nicht aus. Denn nichts, so schreibt Geertz, ist kohärenter als ein Wahngebilde. Bei der ethnographischen Interpretation kommt es deshalb auch darauf an, wie sehr es dem Autor gelingt, seine Leser mit der fremden Kultur in Berührung zu bringen.

 

Der Einfluß der Hermeneutik auf die Anthropologie hat inzwischen zu einer Radikalisierung des Verstehensproblems geführt. Seit Anfang der 80er Jahre ist in den USA eine lebhafte Debatte in Gang, in deren Zentrum der ethnographische Text als wissenschaftliches Konstrukt steht. Das Geertzsche Projekt, "Kultur als Text" zu begreifen, erfährt in dieser "writing culture"-Debatte eine reflexive Wende.(5) Dabei wird die Aufmerksamkeit auf die literarische, rhetorische und narrative Verfaßtheit von Ethnographien gelenkt, statt durch sie hindurch auf eine angeblich textfreie Wirklichkeit zu schauen. Der Anspruch, Kulturen zu interpretieren, gerät dadurch ins Wanken. In Fachkreisen wird von einer "crisis of ethnographic authority" gesprochen.(6) Die Rolle des Interpreten rückt ins Zentrum des Interesses, denn seine Verantwortung für die Produktion von Fremdbildern - in kritischer Absicht mit dem Neologismus "Othering" belegt - erscheint unter zwei Gesichtspunkten als problematisch. Aus erkenntnistheoretischer Sicht soll mit dem Begriff des "Othering" verdeutlicht werden, daß fremdkulturelle Unterschiede durch den Diskurs der Differenz hervorgebracht und schließlich festgeschrieben werden. Gemeinsamkeiten zwischen der fremden und eigenen Kultur treten in den Hintergrund. Ethnographien schaffen so ein verzerrtes Bild der anderen Kultur, in dem sich die Angehörigen dieser Kultur nur selten wiedererkennen. Noch gravierender als diese erkenntnistheoretische ist die wissenschaftsethische Kritik. Denn der Begriff "Othering" soll auch verdeutlichen, daß der ethnographische Text als Diskurs der Differenz überhaupt erst die Ausgrenzung der anderen Kultur ermöglicht.(7)

 

Aus der Verstrickung der klassischen Ethnographien in den Kolonialismus ergibt sich für die "writing culture"-Bewegung die Forderung, die Darstellung des Fremden zumindest auf seine unausgesprochenen Machteffekte hin zu überdenken. Denn nicht nur die Fremdbilder aus der Kolonialzeit, sondern auch die Fremdbilder, die der Ethnograph in der heutigen Welt zeichnet, lassen sich hervorragend zur Stigmatisierung der jeweiligen Kultur verwenden.

 

Für meine Untersuchung über die Turkish Power Boys ist dieses Dilemma ethnographischen Schreibens von besonderer Brisanz. Denn die Beschreibung einer delinquenten Subkultur türkischer Jugendlicher erfolgt keineswegs auf einem politisch neutralen Feld. Sie ist jederzeit auch der Gefahr ausgesetzt, als Beleg für "Ausländerkriminalität" mißbraucht zu werden und der weiteren Stigmatisierung und Ausgrenzung der Betroffenen zu dienen. Wie kann man dieser Problematik verantwortungsvoll begegnen?

 

Das ethnographische Schreiben als Produktion von Fremdbildern ist in erster Linie Konstruktionsarbeit, die sich - besonders wenn es um Minderheitengruppen geht - immer wieder hinterfragen lassen muß. So ist die Geschichte der Turkish Power Boys, die ich geschrieben habe, keineswegs ihre "wirkliche" Geschichte, sie ist auch nicht ihr bloßes Abbild, sondern Interpretation im vollen Wortsinn. Sie ist damit abhängig vom kulturellen und sozialen Standort des Interpreten. Ich habe - dieser Auffassung folgend - meine Position als Außenstehender, der den mühsamen Zugang zu einer ihm fremden Kultur und Subkultur sucht, stets offengelegt. Das Verstehen war in meinem Fall ein von Mißverständnissen begleiteter Lernprozeß, in dem die gewählten Kommunikationsstrategien auch scheitern konnten. Am besten läßt sich die ethnographische Tätigkeit als eine nicht abschließbare Übersetzungsarbeit zwischen den Kulturen umschreiben. Die Übersetzungsleistung besteht darin, den Leser mit einer ihm fremden Kultur in Berührung zu bringen, ihm Identifikationsmöglichkeiten zu bieten, die er zuvor nicht hatte. Deshalb habe ich in meiner Veröffentlichung großen Wert gelegt auf ausführliche und detaillierte Situationsbeschreibungen sowie auf die Wiedergabe von Dialogen mit den Jugendlichen. Statt das empirische Material einem einheitlichen Theoriemodell unterzuordnen, habe ich der Vielfalt und Widersprüchlichkeit des Materials Raum gegeben. Viele der Bandenmitglieder, die meine Arbeit später gelesen haben, konnten sich darin wiederfinden. Manche nutzten sogar die Gelegenheit, den Text noch vor der Drucklegung zu kommentieren und zu korrigieren - eine Hilfe, die mir besonders wertvoll war. Ich versuchte damit, den Gefahren des "Othering" entgegenzuwirken. Dieser vorsichtige Umgang mit Jugendlichen einer fremden (Sub-)Kultur birgt Potentiale, die das ethnographische Vorgehen zu einem fruchtbaren Unternehmen machen. Denn indem ich ein anschauliches Bild dieser Jugendlichen, ihrer Lebenssituation und Kultur zeichnete - und mag es auch noch so konstruiert und im Detail fragwürdig sein -, sorgte ich zugleich für ein Angebot der Verständigung und des interkulturellen Dialogs. Der verstehende Ansatz ermöglicht außerdem, den Blick auf die eigene Kultur und ihre blinden Flecken zu lenken. Beide Prinzipien, das Verstehen des Fremden und die Kritik am Eigenen, hatten auf mein ethnographisches Arbeiten einen maßgeblichen Einfluß. Statt ausschließlich das Gewaltproblem in den Vordergrund zu stellen, habe ich in meiner Ethnographie über die Bande auch solche Aspekte berücksichtigt, die in der öffentlichen Wahrnehmung völlig unbeachtet blieben. So porträtierte ich einzelne Bandenmitglieder im Kontext ihrer Familien- und Migrationssituation, versuchte Lebens- und Bandengeschichte in einen biographischen Zusammenhang zu stellen. Gleichzeitig arbeitete ich die subkulturellen Wert- und Normorientierungen dieser Gruppe heraus: ihre Freundschaftsbeziehungen und -ideale, ihr Männlichkeitsgebaren, ihre spielerischen Beleidigungs- und "Anmach"-Rituale. Erst auf Grundlage dieser ethnographischen Perspektive schien mir eine Interpretation und Einordnung des Gewaltphänomens angebracht. Denn durch eine differenzierte und lebensnahe Darstellung der Jugendlichen ließ sich das vorherrschende Klischee des "kriminellen Ausländers" konterkarieren - ohne damit die Gewalt zu verharmlosen oder zu legitimieren. Zu welchem Ergebnis ich dabei gelangte, möchte ich im zweiten Teil dieses Beitrags zeigen.

 

II. Muster ethnischer Gewalt

 

Im Verlauf ihres zweijährigen Bestehens von 1990 bis 1992 traten den Turkish Power Boys etwa 50 Jungen im Alter zwischen 13 und 18 Jahren bei. Die Bande hatte sich aus einem locker gefügten Freundschaftsnetz türkischer Jugendlicher gebildet, zu dem auch einzelne Angehörige anderer Migrantengruppen hinzukamen - jedoch keine Deutschen. Auffallend an der Gruppenzusammensetzung war der sehr unterschiedliche Bildungshintergrund ihrer Mitglieder. Je ein Drittel der Jugendlichen besuchte die Hauptschule und Realschule. Es befanden sich aber auch drei Gymnasiasten, zwei Berufsschüler und zwei Sonderschüler in der Bande. Die entscheidende Basis für die Solidaritätsbeziehungen war offenbar nicht - wie sonst bei peers - das Sozial- und Bildungsniveau, sondern die Erfahrung des gemeinsamen Aufwachsens als Migrantenkinder in einer städtischen Nachbarschaft. Die Eltern waren in den untersten Berufspositionen als unqualifizierte Arbeiter (bei der Müllabfuhr, in Putzkolonnen, in der Fabrik) beschäftigt. Mit ihrer Vergemeinschaftung zu einer Bande konnten die Jugendlichen ihrem Status als "illegitime Kinder"(8) der Gesellschaft offensiv entgegentreten. Einige der Turkish Power Boys waren in beachtlichem Ausmaß delinquent, manche nur gelegentlich, andere dagegen überhaupt nicht. Die meisten identifizierten sich jedoch mit den Gewalt- und Straftaten, die von Mitgliedern der Gruppe begangen wurden. Das Spektrum an delinquentem Verhalten reichte von Bagatelldelikten wie Ladendiebstahl, Schuleschwänzen und Pöbeleien über Vandalismus, Drogendelikte und gefährliche Körperverletzung bis hin zu Autodiebstahl, Kioskeinbrüchen, Raubüberfällen und anderen Straftaten zur Geldbeschaffung. Straffälliges Handeln stellte aber nur einen Bruchteil der Bandenaktivitäten dar. Freundschaft und Solidarität, Respekt und Anerkennung, Männlichkeit und Mut, Mädchen und Musik oder Fußball und Billard waren für den Gruppenalltag ebenso bestimmend wie eine manchmal nahezu unerträgliche Langeweile.

 

Während ihrer Gründungsphase hatten sich die Turkish Power Boys durch Straßenraubüberfälle auf deutsche Jugendliche "einen Namen gemacht", waren aus der Unbekanntheit hervorgetreten, waren, wie sie selbst betonten, über die Stadtteilgrenzen hinaus "berühmt" geworden. Am Beispiel des "Jackentokats" möchte ich erörtern, welcher "Logik" ihre Gewalttaten folgten. Der Ausdruck "Tokat" stammt aus dem Türkischen und bedeutet "Backpfeife". Im Jargon der Bande wurde der Begriff jedoch umgedeutet. Mit "Tokat" bezeichneten die Jugendlichen einen Raub, den sie öffentlich, in einer aggressiven und für das Opfer bedrohlichen Weise verübten. Charakteristisch für das "Tokat" war die Demütigung des Opfers. "Tokat machen" bezog sich nicht ausschließlich auf Jacken, sondern auch auf andere Gegenstände, wie Walkmen, Mützen, Portemonnaies oder auch Fahrräder.

 

Führende Mitglieder der Gruppe erklärten mir, wie sie bei einem "Tokat" vorgingen. Nach ihren Aussagen erfolgte der Straßenraub nur in Gemeinschaft, mindesten zu zweit, niemals aber allein. Er gab den Beteiligten Gelegenheit, sich voreinander zu profilieren. Charakteristisch für den Ablauf war die spontane und unorganisierte Vorgehensweise. Die Beute diente mehr dem Zweck der Selbstdarstellung als dem Bedürfnis, daraus finanziellen Profit zu schlagen. Noch Monate nach den ersten Überfällen schwärmten die Jugendlichen von ihren "ruhmreichen" Taten:

 

Ismail: "Wir haben in einem halben Jahr soviel Hektik gemacht, was andere Banden nicht einmal in einem ganzen Jahr gemacht haben. Wir haben so was innerhalb eines Monats gemacht - soviel Jacken abgenommen, Geld abgenommen, Männer zusammengeschlagen ...

 

Warum habt ihr das gemacht?

 

Ismail: Das haben wir nur so aus Spaß gemacht. Früher war das so 'in'. Das hat jeder gemacht.

 

Veli: Das zeigt die Macht halt.

 

Und wem nehmt ihr die Jacken ab?

 

Muzaffer: Vor allen Dingen Deutschen.

 

Welche Jacken? Bestimmte Jacken?

 

Ismail: Bomberjacken, Chevignons, Lederjacken, egal ...

 

Veli: Hauptsache Jacke.

 

Muzaffer: Aber es muß eine gute Jacke sein."

 

 

Kennzeichnend für diese Delikte war das Prinzip: "Nur Deutsche! Wir haben es immer von Deutschen abgerippt". Die Gelegenheiten zu einem Jackenraub boten sich bei Aufenthalten in den städtischen Parks oder auf dem Frankfurter Jahrmarkt. Es kam auch zu Jackenraub in U-Bahn-Stationen und auf offener Straße, wenn Mitglieder der Gruppe dort planlos zusammenstanden und mit vorbeilaufenden deutschen Jugendlichen eine Auseinandersetzung suchten.

 

Die Rollen von Opfer und Täter waren aus der Sicht der Turkish Power Boys klar nach dem Kriterium der nationalen Zugehörigkeit definiert: nur "Deutsche" konnten Opfer sein, nur "Ausländer" die Täter.

 

Hayrettin: "Die Leute, die Jackentokat machen, das sind Ausländer, in jedem Fall. Und ich meine, wer sieht von uns hier schon aus wie ein Deutscher? Keiner! Ich trage meine Bomberjacke schon seit sechs oder sieben Jahren. Und mich hat noch nie einer dumm angeguckt oder angequatscht: 'Ey, was hast du denn da für eine Bomberjacke ...' Wahrscheinlich halt deswegen, weil ich Türke bin. Man sieht das. Ich bin Türke und mich macht keiner an, weil ich Türke bin."

 

Dem "Abziehen" einer Jacke ging immer die "Anmache" des potentiellen Opfers voraus. Wenn die Opfer sich von der "Anmache" einschüchtern ließen und verängstigt reagierten, wurden sie unter weiteren Drohungen genötigt, ihre Jacke herzugeben. "Dann sagst du: 'Zieh die Jacke aus!' Und wenn er es nicht tut, schlägst du ihm die Fresse ein, dann zieht er sie trotzdem aus. Also für ihn wäre es klüger", meinte Yldrm, "wenn er die Jacke gleich auszieht und nicht vorher auf's Maul bekommt".

 

Um der Einschüchterung Nachdruck zu verleihen, verwendeten die Jungen auch Waffen, beispielsweise Messer oder Gaspistolen, oder aber sie standen in der Gruppe zusammen und flößten durch ihre zahlenmäßige Überlegenheit dem Opfer Angst ein. Wer sich zu wehren versuchte und die Jacke nicht gleich auszog, mußte damit rechnen, geschlagen zu werden. "Wir freuen uns sogar, wenn sich jemand wehren tut", betonte Muzaffer und begründete dies so: "Wenn wir die Jacke abnehmen, und der Typ wehrt sich nicht, das macht auch nicht viel Spaß. Das macht mehr Spaß, wenn man eine runterkriegt. Dann wird man schnell aggressiv und schlägt zurück. Dann hat man schneller die Jacke." Die Opfer, so erzählten die Jungen, reagierten auf eine "Anmache" normalerweise defensiv, versuchten zu beschwichtigen und einem Konflikt aus dem Weg zu gehen. "Die meisten haben Schiß", beschrieb Arif das gängige Reaktionsmuster. Mit Äußerungen wie "Ey, hört doch mal auf, ey, bitte nicht, macht keinen Scheiß", hätten die deutschen Jugendlichen den Angriff in der Regel abzuwenden versucht. Den türkischen Jungen waren die Zumutung und Demütigung, die ihre Angriffe für die Opfer bedeuteten, sehr wohl bewußt. Ihre Motive, die sie für den Jackenraub vorbrachten, erscheinen dagegen trivial. "Das machen wir nur, um Spaß zu haben", führte Veli als Hauptgrund an. "Wir gehen raus, sehen den Typen mit der Jacke, nehmen die Jacke ab, sind dann froh, weißt du." Das "Jacken-Abziehen" war für sie mehr als nur ein "Thrill" oder Vergnügen, es wurde auch als eine Art ausgleichende Gerechtigkeit gegenüber den Deutschen gewertet: "Das war der Renner, weil es hat auch jeder gemacht", schilderte Zafer die damalige Situation unter den ausländischen Jugendlichen, denn "die reichen Deutschen hatten doch die Chevignons-Jacken gehabt."

 

In der Anfangsphase meiner Feldforschung, als ich noch den Kontakt zur Bande suchte, wurde ich selbst mit Gewalt konfrontiert, lange bevor ich mir einen umfassenden Überblick über das Ausmaß der Delinquenz verschaffen konnte. Meine erste Begegnung mit den Turkish Power Boys fand in einem Jugendclub statt, wo sich die Gruppe täglich traf. Zu diesem Zeitpunkt wurde ich von einigen Bandenmitgliedern massiv bedroht und angegriffen, ohne daß ich einen offensichtlichen Anlaß dafür geliefert hatte. Zunächst konnte ich mir überhaupt nicht erklären, warum ich zur Zielscheibe verbaler und körperlicher Attacken wurde. In ihrem gewaltsamen Auftreten sah ich keinen anderen Sinn als bloße Feindseligkeit. Natürlich hatte ich mir Erklärungen zurechtgelegt, etwa daß die Jungen sich mit mir messen und meine Grenzen austesten wollten. Doch diese Rationalisierungen waren angesichts der massiven Attacken alles andere als befriedigend.

 

Erst mit der Zeit konnte ich über Gespräche mit den Jugendlichen dem Gewaltphänomen auf die Spur kommen. Anfangs war dies sehr schwierig, weil ich mich gegenüber Mißtrauen und Anfeindungen behaupten mußte. Einer der Angreifer begründete damals seine Attacken gegen mich mit ethnischen Motiven: die Deutschen, so sagte er, würden in der Türkei "wie Könige" behandelt, die Türken in Deutschland aber "wie der letzte Neger". Aus dieser Äußerung geht hervor, daß das gewaltsame Gebaren gegen mich nicht eine Reaktion auf mein individuelles Verhalten war, sondern auf meine Position als Deutscher, als Repräsentant der Mehrheitsgesellschaft. Statt jedoch das Dominanz- und Subordinationsverhältnis zwischen deutscher Mehrheit und türkischer Minderheit in meine Interpretation einzubeziehen, verfolgte ich lange Zeit eine andere Deutungsvariante.

 

Vielleicht ist es ein spezifisches Vorurteil meines Faches, der Kulturanthropologie, fremde Verhaltensweisen immer aus den kulturellen Werten der untersuchten Gruppe heraus erklären zu wollen. Auch ich bin diesem Interpretationsversuch erlegen: Je mehr ich in der Gruppe Handlungssicherheit gewann, umso mehr lernte ich auch mit dem männlichen Gebaren der Jungen, ihrer herausfordernden, prahlerischen und machistischen Art umzugehen. Ich glaubte, aus einem von der türkischen Herkunft geprägten männlichen Habitus eine Verbindung zu den Gewalttaten der Gruppe herstellen zu können. Das stark entwickelte Männlichkeitsbewußtsein der türkischen Jungen und das schwach ausgeprägte auf Seiten der deutschen Opfer schien mir ein gewaltsames Handeln geradezu herauszufordern. Diese kulturalistische Deutung versperrte mir jedoch den Blick auf die Kehrseite der stets souverän und überlegen wirkenden Bandenmitglieder. Erst nach einem Jahr des Kennenlernens realisierte ich, wie sehr das Selbstbild dieser Jungen durch mangelnde soziale Anerkennung beschädigt war. Wenn ich dann bis in den späten Abend mit ihnen zusammensaß, erzählten sie mir von ihren persönlichen Problemen, von den Schwierigkeiten, als Türke in Deutschland Achtung und Anerkennung zu finden. Die Jugendlichen hatten das erniedrigende Bild verinnerlicht, das ihnen in der deutschen Gesellschaft begegnete. Ihre Ohnmachtsgefühle konnten sie sich jedoch nicht im normalen Gruppenalltag und schon gar nicht, wenn ich sie interviewte, eingestehen. Gewalttaten gegenüber deutschen Jugendlichen schilderten sie mir gegenüber vielmehr souverän und selbstbewußt.

 

Aus Gerichts- und Polizeiprotokollen geht hervor, daß die "Power Boys" Straftaten mit einer beachtlichen Brutalität verübten. Der folgende Fall ist einem Gerichtsurteil entnommen und dokumentiert beispielhaft den Verlauf eines Gewaltkonflikts.

 

"Gegen 18.40 Uhr stellte sich der Angeschuldigte Koca dem mit seinem Mountainbike auf der Höhenstraße entlangfahrenden Zeugen Neumann in den Weg. Als der Zeuge anhielt, umringten ihn die übrigen Mittäter. Während einer der Unbekannten ein Messer auf den Oberschenkel des Geschädigten richtete und der andere Unbekannte eine Pistole in der Hand hielt, nahm der Angeschuldigte Koca den Walkman, die Goldkette mit Anhänger sowie den Ring des Geschädigten an sich. Nun ohrfeigte der Angeschuldigte Karadeniz den Zeugen Neumann, zerrte ihn vom Mountainbike und behielt das Rad bei sich. Anschließend erfaßte der Unbekannte, der die Pistole hatte, den Geschädigten am T-Shirt und der Angeschuldigte Çevik trat ihm in Kampfsportart einmal gegen die Nase und einmal in den Rücken. Außerdem versetzte er ihm eine sogenannte 'Kopfnuß'."(9)

 

Charakteristisch für dieses Delikt ist, daß der Handlungsverlauf gar nicht dem Muster von Provokation und Gegenprovokation folgt, es also keineswegs um die Verteidigung der "türkischen Ehre" geht, sondern die Gewalt auf die Erniedrigung des Opfers zielt. Das Opfer wird erst, nachdem es beraubt worden ist, brutal ins Gesicht getreten und mit einer "Kopfnuß" niedergeschlagen. Wäre Gewalt allein ein instrumentelles Mittel, hätte es genügt, das Opfer in Ruhe zu lassen, nachdem ihm Walkman, Fahrrad, Kette und Ring entwendet worden waren.

 

Als scheinbar banalen Ausgangspunkt einer Tat schilderten die Bandenmitglieder immer wieder den "schiefen Blick", mit dem sie deutsche Jugendliche betrachteten. In diesen Blicken, dem "dumm angeguckt werden" von Deutschen, nahmen die Jugendlichen ein verächtliches Bild ihrer selbst wahr. Zuschlagen bedeutete für sie ein legitimes Zurückschlagen gegen Deutsche, unter deren Blick sie sich mißachtet fühlten und kein Selbstwertgefühl entwickeln konnten. Viele Aussagen der Bandenmitglieder deuten in diese Richtung. Aus Äußerungen wie "jetzt zeig' ich's denen mal" oder "keinen Respekt haben" vor Deutschen, "gar nicht reden, einfach draufschlagen, einfach drauf", geht die Umkehrung der eigenen Erniedrigung hervor. Die deutschen Opfer wurden in dem Maße gedemütigt, wie die Jungen aus der Bande sich mit einem erniedrigenden Selbstbild konfrontiert sahen. Deshalb kommt dem Blick des anderen als banaler Auslöser für Gewalt eine so entscheidende Bedeutung zu. "Dann guckten uns alle an, als ob wir die größten Diebe wären", beschreibt Muzaffer beispielhaft den Ausgangspunkt einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen den Mitgliedern der Bande und deutschen Jugendlichen. Es ist, als ob sich alleine schon im Blick des Opfers, dem Angegucktwerden aus der Sicht der Täter, das eigene Selbstbild spiegelt. "Da bin ich hingegangen und habe gemeint: 'Was guckt ihr uns an? Ist was los oder was?'" fährt Muzaffer fort. Er und seine Freunde regierten auf diese Blicke mit Gewalt, wenn sie darin Verächtlichkeit zu erkennen glaubten.

 

Ich betrachte dieses Verhaltensmuster als einen Versuch der Migrantenjugendlichen, sich von ihrem negativen Selbstbild - der verinnerlichten Perspektive der Deutschen - zu befreien. In ihren Gewalttaten reagierten sie auf eine abnorme gesellschaftliche Situation, in der sie ihre Ethnizität und Klassenzugehörigkeit vorwiegend durch Ausgrenzung, Geringschätzung und Mißachtung erlebten.

 

 

 

Anmerkungen:

 

1. Tertilt, Hermann (1996): Turkish Power Boys. Ethnographie einer Jugendbande. Frankfurt: Suhrkamp

 

2. Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt: Suhrkamp, S. 9.

 

3. Gadamer, Hans-Georg (19744): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer hermeneutischen Philosophie. Tübingen: Mohr, Siebeck, S. 343.

 

4. Ebenda, S. 275.

 

5. Clifford, James & Marcus, George (Ed.) (1986): Writing Culture: The Poetics and Politics of Ethnography. Berkeley: University of California Press

 

6. Clifford, James (1988): Twentieth-Century Ethnography, Literature, and Art. Cambridge, Massachusetts, and London: Harvard University Press, S. 21-54

 

7. Vgl. Fabian, Johannes (1993): Präsenz und Repräsentation. Die Anderen und das anthropologische Schreiben. In: Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. (Hrsg. von Eberhard Berg und Martin Fuchs). Frankfurt: Suhrkamp, S. 335-364. Die Beiträge in dem Sammelband bieten einen für Deutschland einzigartigen Überblick über die vorwiegend amerikanische Diskussion.

 

8. In deutschen Großstädten wie Frankfurt hat knapp die Hälfte der jugendlichen Wohnbevölkerung keinen deutschen Paß. So sind auch die meisten der Turkish Power Boys in Deutschland geboren und aufgewachsen, haben aber dennoch nur einen Ausländer-Status, der von Generation zu Generation übertragen wird. Diese systematische Form der Benachteiligung und der Vorenthaltung von Rechten basiert auf einem gesellschaftlichen Konsens, der immer noch am Bild einer ethnisch homogenen deutschen Volksgemeinschaft festhält.

 

9. Alle Angaben aus dem Protokoll, die zur Identifizierung der Personen führen könnten, sind geändert.

 

 

"Turkish Power Boys" oder: Das mühselige Geschäft der Integration

 

Klaus-Peter Martin

 

www.oeko-net.de/kommune/kommune5-96/TTUERKEN.htm

 

Zwei Jahre lang - ab Sommer 1990 bis zum Herbst 1992, als sie sich selbst auflösten - machte eine türkische "Jugendgang" aus dem Frankfurter Stadtteil Bornheim viel von sich reden. Das Besondere an den "Turkish Power Boys", wie sie sich nannten, waren nicht ihre zahlreichen Straftaten, die regelmäßig für Schlagzeilen in der örtlichen Presse sorgten und auch nicht ihre Bereitschaft, mit Gewalt ihr Territorium gegen andere Jugendgangs zu verteidigen. Anfang der neunziger Jahre waren Bandenzusammenschlüsse unter Jugendlichen an der Tagesordnung. Allein in Frankfurt sollen nach Polizeiangaben zu der Zeit etwa 500 Jugendliche in gewaltbereiten Cliquen organisiert gewesen sein. Dabei spielten deutsche Heranwachsende in der Regel nur eine untergeordnete Rolle. Einige dieser Gangs verwiesen mit ihrem Namen auf das Herkunftsland ihrer Eltern und definierten sich damit als ethnische Gruppierung: "Kroatia Boys", "Italy Boys", "Russ Boys"; andere führten ein Frankfurter Wohngebiet in ihrem Gruppennamen.

 

Bemerkenswert an den "Turkish Power Boys" war zum einen, daß sie über einen vergleichsweise langen Zeitraum ihre Gruppierung am Leben halten und in dieser Zeit etwa 50 türkische Jungen organisieren konnten. Ihre Bedeutung und ihr "Ruf", den sie zeitweilig erreichten, unterstreicht die Tatsache, daß sich auch in der Umgebung von Frankfurt türkische Jugendliche unter dem gleichen Namen nach dem Vorbild der Bornheimer "Turkish Power Boys" zu organisieren begannen. Bis heute gibt es immer mal wieder Versuche, "Turkish Power" in irgendeiner Form wiederaufleben zu lassen. Zur Kontinuität der Bande trug nicht zuletzt auch ihre entwickelte Organisationsform bei: So installierten die Gründer der "Power Boys" einen "Vorstand" als Führungsgremium, als nach einigen Monaten der Druck der Polizei zunahm und einige Mitglieder verhaftet wurden. Dadurch gelang es, ersten Auflösungserscheinungen erfolgreich entgegenzuwirken. Der Vorstand beschloß schließlich zusätzlich die Neubildung einer Juniorgruppe der "Turkisch Power Boys" und vereinbarte einen Verhaltenskodex innerhalb der Gang.

 

Neben Schuleschwänzen, Ladendiebstahl, allerlei "groben Unfugs" und anderer Delikte waren es vor allem die Straßenraubüberfälle und Jackendiebstähle, die für Aufsehen sorgten und den Ruf einer "gefährlichen Jugendbande" begründeten. Noch Monate später schwärmten einzelne Gruppenmitglieder: "Wir haben in einem halben Jahr soviel Hektik gemacht, was andere Banden nicht einmal in einem ganzen Jahr gemacht haben. Wir haben so was innerhalb eines Monats gemacht - so viele Jacken abgenommen, Geld genommen, Männer zusammengeschlagen..." Und warum? Die Begründungen für ihr Tun bleiben vage, unbestimmt: "(...) nur so aus Spaß...", "Das zeigt die Macht halt..." Die Polizei lastete im Herbst 1990 einigen wenigen Mitgliedern der Gang allein über 40 Fälle innerhalb von zwei Monaten an. Opfer waren ausschließlich gleichaltrige oder jüngere Deutsche, die aus der Position der großen Überzahl zum Herausgeben ihrer Jacken, Uhren, Walkmen oder ihres Mountainbikes gezwungen und anschließend verprügelt wurden. Und warum nur Deutsche? - "Die haben sich nicht gewehrt!"

 

Die tiefe Feindseligkeit und der Haß auf alle Deutschen sowie die grenzenlose Brutalität und die Lust zur Demütigung ihrer Opfer, das bleibt das schwierigste Problem beim Versuch, die Geschichte der "Turkish Power Boys" zu verstehen und zu interpretieren. Aktuell sind in der Jugendszene feste, über einen längeren Zeitraum bestehende Zusammenschlüsse eher die Ausnahme. Die Gegensätze und Frontstellungen allerdings sind nach wie vor zu beobachten, nur, daß die Jungs heute mal mit dem und morgen mit jemand anderem auf "Tour" gehen.

 

Der Kulturanthropologe Hermann Tertilt hat die Entwicklung der "Power Boys" recherchiert und aufgeschrieben. Zwei Jahre lang hat er die Gruppe begleitet, beobachtet und sich mit einzelnen Bandenmitgliedern intensiv auseinandergesetzt. In zahlreichen Gesprächen und Interviews hat der Vierunddreißigjährige die Geschichte von "Turkish Power" erkundet und die Beweggründe der Bandenbildung zu erforschen versucht. Eine solche Langzeitstudie mit einer derartigen Bereitschaft des Autors, sich auf die Gruppe einzulassen und über weite Strecken den Alltag mit ihnen zu teilen, ist in der bundesdeutschen Wissenschaftstradition nur sehr selten zu finden. Der soeben von Hermann Tertilt vorgelegte Band Turkish Power Boys. Ethnographie einer Jugendbande kann deshalb nicht hoch genug eingeschätzt werden.

 

Nach der detaillierten Darstellung der Bandengeschichte und den Porträts dreier Mitglieder, schildert Tertilt Wertorientierungen und Verhaltensmuster in der Gruppe, um so ihren Motiven und den Hintergründen ihrer Straftaten auf die Spur zu kommen.

 

Weit wichtiger als materielle Bereicherung waren bei den Raubüberfällen der "Turkish Power Boys" offenbar die Suche nach Abenteuer, das Streben nach Geltung und die Demonstration von Männlichkeit und Macht, schreibt Hermann Tertilt. Typisch bereits der allererste Überfall: Ausgangslage war das gemeinsame "Abhängen" der Gruppe. Der Überfall wurde weder vorher geplant noch organisiert, sondern ergab sich spontan aus der jeweiligen Situation heraus. Einem Jungen, der zufällig vorbeikommt, wird der Walkman mit Gewalt weggenommen und ihm gleich noch ein Faustschlag mitgegeben. Charakteristisch ist auch die große Überzahl der Angreifer gegenüber dem Opfer von zwölf zu eins. Bei zahlreichen anderen Überfällen forderten sie, das Portemonnaie, das Fahrrad, die Mütze oder die Jacke herauszugeben. Dabei spielte unter anderem auch eine Rolle, daß die Gruppenmitglieder es "geil" fanden, immer die neusten Klamotten zu besitzen, die aber holten sie sich auch aus allen möglichen Läden, wenn sie gebraucht wurden. Im Mittelpunkt der "Abripp-Aktionen" auf der Straße war die Demütigung des Opfers. Nicht allein, daß es eingeschüchtert, bedroht und schließlich beraubt wurde, es mußte auch jeweils heftige Schläge einstecken. Regelrecht enttäuscht zeigte man sich, wenn ein Opfer sich nicht traute zu widersprechen oder sich zu wehren: dann "machte es gar keine Spaß", so ein Gruppenmitglied. Diese scheinbar unmotivierte, nicht nachvollziehbare Gewalt und Brutalität stellte die Polizei vor ein Rätsel. Sie sprach von einer "neuen Qualität der jugendlicher Gewalt".

 

Als erstes Erklärungsmuster bietet sich die Erfahrung sozialer Mißachtung und der fehlenden Anerkennung an. Und darauf verweisen auch Äußerungen wie "Das zeigt die Macht halt" oder: "Das mußt du machen, damit du akzeptiert bist." Auch Neid spielt dabei sicher eine Rolle, wenn Hayrettin sich zu rechtfertigen versucht: "Die einen haben's und du nicht. Ja, da nehm ich mir's halt, da haue ich dem auf die Fresse." In die gleiche Richtung argumentiert ebenfalls der Darmstädter Soziologie-Professor Albert Scherr, der den in Frankfurt zur Schau gestellten Reichtum geradezu pervers findet und dementsprechend Raubüberfälle und Autodiebstähle der "Ausgegrenzten" für verständlich und nachvollziehbar hält. Nun war bei den "Turkish Power Boys" auffällig, daß sich Jugendliche mit den unterschiedlichsten Bildungshintergründen zusammengefunden hatten: etwa ein Drittel besuchte die Hauptschule, ein Drittel die Realschule und ein Drittel das Gymnasium oder die Berufsschule. Nach Kenntnis von Hermann Tertilt waren lediglich zwei Jungs Besucher einer Sonderschule. Es bleibt auch zu erklären, warum gerade ausländische Jugendliche bestimmter Nationalitäten - die sicher in besonders extremer Weise unter Ausgrenzung und mangelnder Anerkennung zu leiden habe, aber doch nicht allein davon betroffen sind - in dieser Form auffällig werden und warum sie sich streng nach ethnischen Grenzen organisieren, warum es hier gewissermaßen zu einer "Reethnisierung" kommt.

 

Vordergründig scheint der Zusammenschluß der türkischen Jugendlichen zunächst eine Reaktion auf ausländerfeindliche und rassistische Anschläge Anfang der neunziger Jahre zu sein. Ausgehend von Berlin organisierten sich junge Ausländer, um sich kollektiv gegen Neonazis und gewalttätige Skinheads zur Wehr zu setzen. Bei den "Turkish Power Boys" wurde aber sehr schnell klar, daß dies allenfalls eine im nachhinein abgegebene und nur vorgegebene Argumentation war. Bei einer Veranstaltung in Frankfurt gab Mesut, ehemals einer der führenden Köpfe der "Turkish Power", zu: "Bei uns ging es nie um Politik!" Keiner der Bornheimer "Power Boys" hatte jemals persönliche Erfahrung mit rechten Schlägern gemacht. Dafür dehnten sie den Begriff "Nazis" gleich auf alle Deutschen aus und hatten für sie nur Haß und Verachtung übrig. Wer sich seine Jacke wegnehmen läßt, der ist selbst schuld. Veli, einer der Gründungsmitglieder der "Power Boys": "Weil die so blöd sind, deshalb nehmen wir die Jacken. Von so einem normalen Typ kannst du die Jacke nicht nehmen..." Passanten, die bei Überfällen anwesend waren, haben nie eingegriffen. Für die türkischen Jungs ein weiterer Grund, die Deutschen zu verachten. Yildirim: "Unter Türken bzw. unter Ausländern" sei eine solche von Ängstlichkeit und Gleichgültigkeit geprägte Distanzierung nicht denkbar.

 

Türken halten zusammen! Mit den Deutschen dagegen ist Freundschaft nie möglich, "da ist nicht diese Brüderlichkeit!" Darüber waren sich die Gruppenmitglieder alle einig. Zafer zum Beispiel kann Deutsche "überhaupt nicht abhaben, wegen ihrer Eigenart." Und zwar: "So eine Art Egoismus ist der." Er geht noch weiter: "Freundschaft heißt: das gibt es bei den Deutschen nicht." An anderer Stelle wird "typisch deutsch" zudem mit "unmännlich" übersetzt. Kein Wunder, daß die überfallenen deutschen Jugendlichen für die Bandenmitglieder nichts weiter als Tiere darstellten, die auch entsprechend zu behandeln waren. "Wir haben immer gesagt: ,Das ist nur eine kleine Ameise für uns, ein kleines Tier für uns`", bekennt ein Gruppenmitglied nachträglich.

 

Hermann Tertilt erklärt diese Haltung mit der Mißachtung und Demütigung, wie sie türkische Jugendliche aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit erfuhren. Für ihn hat es daher durchaus einen "Sinn", wenn die "Power Boys" in Umkehrung das Kriterium der nationalen Zugehörigkeit zum Anlaß nahmen, deutsche Jugendliche in entsprechend erniedrigenden Weise zu behandeln. Seine zentrale These lautet, daß das Zustandekommen derartiger gewalttätiger ethnischer Gruppierungen "auf der Erfahrung eines kollektiven Status- und Anerkennungsdefizits in der Gesellschaft beruht und daß die Bande als subkulturelle Gemeinschaft der Bewältigung migrationsspezifischer Schwierigkeiten dient".

 

Nach meinen eigenen Erfahrungen mit türkischen Jugendlichen greift Tertilt mit diesem Erklärungsversuch etwas zu kurz. Sicherlich kann man die Geschichte der "Turkish Power Boys" mit Recht zum Anlaß nehmen, die mangelnde Integrationsbereitschaft der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu beklagen und die Forderungen nach rechtlicher Gleichstellung der hier geborenen und zur Schule gegangenen Migrantenkinder, doppelter Staatsbürgerschaft, erleichterter Einbürgerung und so fort zu unterstreichen. Gleichzeitig ist aber zu beobachten - und das zeigt das Beispiel "Turkish Power Boys" eben auch -, daß ein Teil der jugendlichen Einwanderer sich bewußt von der Mehrheitsgesellschaft abschottet, unter sich bleiben möchte und problematische Orientierungen herausbildet. Um diese Verhaltensweisen und Einstellungen zu verstehen, ist es meines Erachtens nützlich, sich einige Aspekte des türkischen Ehrbegriffes näher anzuschauen.

 

Als ehrlos gilt in der türkischen (Dorf-) Gemeinschaft derjenige, der nicht bedingungslos und entschieden seine Angehörigen verteidigt. Dabei zählt ausschließlich die Tatsache, daß eine Grenze verletzt wurde, nicht aber die Gründe dafür oder die Frage von "Schuld" und "Unschuld". Letzter Prüfstein des Handelns ist das Wohl der eigenen Gruppe.

 

Dies erklärt zum einen das Einfordern der bedingungslosen Solidarität unter den Gruppenangehörigen ("Jeder kämpft für jeden!", "Alle müssen zusammenhalten; alle, alle waren dabei!"), zum anderen die Verachtung für die "ehrlosen" Deutschen, die ihren Landsleuten nicht helfen und die sich schlagen und demütigen lassen, ohne sich zu wehren. Eine zerstörte Ehre nämlich kann nur durch Gewalt wieder hergestellt werden; wer dagegen keine Vergeltung übt, wenn die Ehre befleckt wurde, der hat Schwäche gezeigt. Die Ehre des Mannes wird also mit Stärke assoziiert. Um die Ehre "der Türken" wieder herzustellen, die von Deutschen mißachtet, beschimpft, angegriffen werden, mißachten, beschimpfen, demütigen und schlagen die "Turkish Power Boys" demnach "die Deutschen". Auf der oben erwähnten Veranstaltung in Frankfurt beharrten die ehemaligen "Power Boys" auch heute noch darauf, daß "die Deutschen angefangen" hätten. Sie hätten darauf nur in dem Sinne reagiert, daß sie es "den Deutschen mit Gewalt zeigen" wollten. Dabei macht die Familien- und die Gruppenbezogenheit rücksichtsloses und brutales Vorgehen problemlos, da die Opfer als "schwache" oder "unmännliche" Wesen gelten - und nicht als Menschen, die Achtung verlangen können.

 

Dazu paßt aktuell, daß die Frankfurter Rundschau Anfang Februar meldet, daß sich immer mehr junge Türken in Deutschland zum Islam hingezogen fühlen und sich auf die heimatliche Kultur besinnen. Laut einer Untersuchung der Universität Bielefeld stimmen 41 Prozent der 15- bis 21jährigen türkischen Jugendlichen der Aussage zu, sie seien "bereit, sich mit körperlicher Gewalt gegen Ungläubige durchzusetzen", wenn dies der islamischen Gemeinschaft diene. Knapp 30 Prozent waren in diesem Fall auch dafür, "andere zu erniedrigen". Und 28 Prozent stimmten dem Satz zu: "Wenn jemand gegen den Islam kämpft, muß man ihn töten." Nun waren die "Turkish Power Boys" keine schlagkräftige Gemeinschaft fundamentalistischer Islamisten, als "Rechte" galten sie unter Landsleuten allemal. Bedenklich muß die Tendenz der Abgrenzung und Selbstisolierung und die fanatische Beschwörung der türkischen Identität schon stimmen.

 

Einen anderen Aspekt heben Klaus Farin und Eberhard Seidel-Pielen hervor, die sich Anfang der neunziger Jahre in ihren Reportagen mit "multikulturellen Streetgangs" in Deutschland beschäftigt haben. Sie sehen in diesen Gruppierungen und dem vielfältigen deliquenten Verhalten eine "Kriegserklärung" sowohl an die bundesrepublikanische Mehrheitsgesellschaft als auch an die Elterngeneration der Jugendlichen. Ihrer Auffassung nach sind die Gangs Ausdruck eines neuen Selbstbewußtseins; in ihnen werde der Aufstand gegen den "devoten Untertanengeist der Eltern" organisiert.

 

Auf den ersten Blick hat auch diese Argumentation einiges für sich. So sind eine ganze Reihe der Väter der "Power Boys" bei der städtischen Müllabfuhr in Frankfurt beschäftigt - kein Grund für die Söhne, besonders stolz zu sein. Daß die zweite Generation der Immigranten keine Lust hat, sich mit den miesen und schlecht bezahlten Jobs ihrer Väter zu begnügen, ist leicht zu verstehen.

 

Hermann Tertilt beschreibt in seinem Buch jedoch auch einen anderen Fall. Arif, der aus einem sehr strengen Elternhaus, mit einem konservativ-religiösen Vater, stammt, leidet unter dem Zwiespalt zwischen traditionellen Erwartungen der Familie und seinen eigenen Vorstellungen von Freiheit und selbstbestimmtem Leben. Obwohl er das autoritäre Verhalten und die für ihn altmodisch erscheinenden Vorschriften des Vaters ablehnt, geht er äußerst respektvoll mit ihm um und hält sich daran, "was man halt bei uns so macht". Der Vater ist übrigens ebenfalls Müllmann, die Mutter geht putzen. Schließlich bewahrt ihn die Gewißheit, daß sich die gesamte Familie für sein Verhalten verantwortlich fühlt und trotz allem die Identifikation mit der starken Vaterfigur vor dem Abgleiten in eine delinquente Laufbahn. Vor allem der väterliche Stolz, schreibt Tertilt, sein Sinn für Ehre und Ansehen vermochten Arif "Orientierung und Identität, Selbstbewußtsein und Selbstkontrolle zu geben."

 

Im Herbst 1992 lösten sich die "Turkish Power Boys" auf. Grund dafür waren vor allem die lockerer gewordenen Kontakte untereinander, der fehlende Zusammenhalt. Dazu hatten Drogenkonsum beigetragen, Festnahmen und Aburteilungen einzelner Mitglieder, aber auch das Älterwerden der "Power Boys" und feste Beziehungen zu Freundinnen. Was ist mittlerweile aus den von Hermann Tertilt beschriebenen Jugendlichen geworden? Viele von ihnen haben die Schule abgebrochen, einige von ihnen eine Drogenkarriere eingeschlagen. Mindestens zehn Jugendliche wurden von ihren Eltern in die Türkei zurückgeschickt, wo sie aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse und Anpassungsschwierigkeiten in der Schule ebenfalls scheiterten. Kaum einer hat bisher eine Ausbildungsstelle gefunden oder eine Lehre bis zum Ende durchgehalten. Für nicht wenige endete die Mitgliedschaft bei den "Turkish Power Boys" im Knast.

 

Im nachhinein fragt man sich natürlich, warum hat sich außer dem Anthropologen Hermann Tertilt niemand um die Jungs gekümmert, bevor sie durch ihre zahlreichen Straftaten nur noch ein Fall für Polizei und Staatsanwaltschaft waren. Scheinbar wurden sie sich selbst und der Straße überlassen, kein Jugendarbeiter und kein Jugendhaus war für sie offen. - Falsch! Und das macht noch nachdenklicher: In ihrer schlimmsten Phase verkehrten die Mitglieder der Jugendgang Tag für Tag in einem Jugendtreff im Stadtteil, in dem vier hauptamtliche Kräfte angestellt waren. Zudem besuchten sie ab und zu ein weiteres, größeres Jugendhaus. Während die "Power Boys" im Jugendhaus mit anderen Gruppen zusammenkamen, blieben sie im Jugendtreff unter sich, und das war auch so gewollt. Es war "ihr Ort"; hier waren sie frei von Vorschriften. Der Jugendtreff "war eine Schutzzone, in der sie sich weitgehend der sozialen Kontrolle entziehen konnten", schreibt Hermann Tertilt. Das und das Folgende gleicht einem sozialpädagogischen Offenbarungseid dieser Einrichtung: "Symptomatisch für die Situation der Sozialarbeiter war ihre Uniformiertheit über das, was die Jugendlichen außerhalb des Treffs taten." Unter den Augen der Sozialarbeiter wurden Gegenstände "vercheckt", ab und zu verschwand auch schon mal die Getränkekasse. Kein Wunder, daß ein ehemaliges Mitglied der "Turkish Power" heute sagt: "Ich habe keine Probleme mit den Sozialarbeitern gehabt." Kenan, ein weiterer "Power Boy" der ersten Stunde, erinnert sich: "Ich hab' sie nie ernst genommen." Die Sozialarbeiter bemühten sich, den Betrieb irgendwie aufrechtzuerhalten. Außer einem generellen Waffenverbot - was die Jugendlichen veranlaßte, ihre Waffen vor der Eingangstüre zu bunkern - "gab es keine "weitergehenden Konzepte, Maßnahmen oder Ideen." Denn diese schienen "weder realisierbar noch den Bedürfnissen der Jugendlichen zu entsprechen". Statt einer so verstandenen Bedürfnisorientierung, statt lediglich einen Raum zu Verfügung zu stellen und Raum zu geben, den Jugendtreff mit türkischen Insignien zu schmücken, hätte es jemand gebraucht, der sich um diese Jungs kümmert; kümmert in dem Sinne, daß er sich der Probleme annimmt, die die Jugendlichen haben - und der Probleme, die die Jugendlichen machen. Genauso dringend wie sie zum Beispiel Unterstützung bei der Lehrstellensuche benötigten, brauchten sie jemand, der Einfluß nimmt auf ihr Verhalten, auf ihre Umgangsweisen, auf ihre Einstellungen. So banal dies klingt, viel zu oft wird vergessen, daß Integration ein wahnsinnig mühseliges Geschäft des Auseinandersetzens, der Verständigung, des Aushandelns, des Erklärens ist.

 

Werner Schiffauer hat in einem früheren Fall einen türkischen Täter gefragt, warum alles so gekommen sei, warum er straffällig geworden sei. Die Antwort: Als er hierher gekommen sei, habe er sich anpassen wollen. "Aber keiner hat mir gesagt: ,So, du bist hier. Das kannst du machen, das darfst du machen. Aber das ist ayip (schändlich, schlimm). Keiner hat mir das gesagt.`"

 

Hermann Tertilt, Turkish Power Boys. Ethnographie einer Jugendbande, Frankfurt/M. (suhrkamp taschenbuch 2501) 1996

 

Werner Schiffauer, Die Gewalt der Ehre. Erklärungen zu einem türkisch-deutschen Sexualkonflikt, Frankfurt/M. (suhrkamp taschenbuch) 1983

 

Klaus Farin, Eberhard Seidel-Pielen, Krieg in den Städten. Jugendgangs in Deutschland, Berlin (Rotbuch Verlag) 1991