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fehe



Intimitätsverlust blickloser Kommunikation in den neuen Medien?

Vortrag, Interfiction VI, Entwürfe und Wirklichkeiten von ”Identität” in den elektronischen Medien, Kassel: Intimitätsverlust blickloser Kommunikation in den neuen Medien, November 1999, Publications, CV

 

Anhand einer Soziologie des Blicks können kommunikative Praktiken in neuen Medien untersucht werden, um die Relevanz von Blicken in bezug auf Regelverhalten, den Grenzen von Intimität und der Konstitution von Schamgefühlen zu überprüfen.

 

Blicke können die Höchstform der Intimität und die subtilste Form der

Ablehnung/Ausgrenzung zwischen Menschen bedeuten. Ausgrenzung, Ablehnung, Zuneigung werden durch Blicke symbolisiert, dadurch, dass der Blick, wenn dieser als vergleichbar mit kommunikativen pragmatischen Praktiken angenommen wird, eine Höchstform an sozialer Reziprozität darstellt:

 

„So ist das wohl mit allen Sinneseindrücken; sie führen in das Subjekt hinein, als dessen Stimmung und Gefühl, und zu dem Objekt hinaus, als Erkenntnis seiner.“ Georg Simmel geht davon aus, dass das Auge zu den Sinnesorganen gehört, das eine einzigartige soziologische Funktion erfüllt, es verknüpft und ermöglicht die Wechselwirkungen zwischen Individuen und besteht in dem gegenseitigen Sich-Anblicken.

 

„Die höchst lebendige Wechselwirkung aber, in die der Blick von Auge in Auge die Menschen verwebt, kristallisiert zu keinerlei objektivem Gebilde, die Einheit die er zwischen ihnen stiftet, bleibt unmittelbar in das Geschehen in die Funktion aufgelöst. Und so stark und fein ist diese Verbindung, dass sie nur durch die kürzeste, die gerade Linie zwischen den Augen getragen wird, und dass die geringste Abweichung von dieser das leiseste zurseitesehen, das einzigartige dieser Verbindung völlig zerstört. ...die Wechselwirkung stirbt in dem Augenblick, in dem die Unmittelbarkeit der Funktion nachlässt.“ Durch den Blick ist das Verstehen, die Intimität und Distanz zwischen den Menschen eine andere, denn der Blick ermöglicht das Erkennen des Anderen durch das Antlitz des Menschen, das nicht nur Träger praktischen Verhaltens des Menschen ist, sondern „nur von ihm erzählt.“ Der soziale Aspekt der Scham lässt sich durch die sprachliche Bedeutung dieser vor Augen führen: sich eine Blöße geben, sein Gesicht verlieren, jemanden unter die Auge treten, als schwach angesehen zu werden, hoch angesehen sein, Ansehen zu genießen, zu jemanden aufschauen. Hierin zeigt sich die Verbindung von Stolz, Scham und Gesichtssinn. Versucht man sich dem Blick des Anderen zu entziehen zum Beispiel durch Beschämtes zu Boden blicken, dann nimmt man dem Anderen die Möglichkeit „mich“ zu erkennen, denn der Mensch ist erst in dem Moment ganz für den Anderen da, wenn dieser ihn nicht nur ansieht, sondern wenn jener ihn auch ansieht.

 

Die Großstadt zeichnet sich für Simmel dadurch aus, dass in dieser im Gegensatz zur Kleinstadt ein unermessliches Übergewicht des Sehens gegenüber dem Hören besteht: durch die öffentlichen Beförderungsmittel. Die Möglichkeit wie in einer Kleinstadt Bekannte zu treffen, mit denen man ein Wort wechselt oder einen Blick, der die sichtbare Persönlichkeit des Anderen reproduziert als Bekannten sind in der Großstadt geringer, denn die Ausbildung der öffentlichen Verkehrsmittel und Transportmittel: Busse, Straßenbahnen, U-Bahnen, Auto, Fahrrad, hatte zur Folge das Menschen „minutenlang bis stundenlang gegenseitig anblicken können oder müssen, ohne mit einander zu sprechen.“ Durch die Bedingung mit Menschen mehr Zeit verbringen zu müssen, die wir anblicken, ohne mit diesen zu sprechen kann von einem Anwachsen nicht zu bewältigender Komplexität und Rätselhaftigkeit gesprochen werden, die kompensiert werden muss, z. B. durch Medien: Radios in den Autos, Videoscreens in den U-Bahnen. Die Rätselhaftigkeit wird durch die in dem Antlitz des Anderen zu erkennenden Geschichten gegeben, den Spuren aller Vergangenheit, die im menschlichen Gesicht zu finden ist.

 

„Dieses ‘Erblickt-Werden’“ bietet sich für Sartre als reine Wahrscheinlichkeit an, die ihren Sinn und eben ihre Wahrscheinlichkeitsnatur nur aus einer fundamentalen Gewissheit gewinnen kann, dass der Andere für mich immer anwesend ist, insofern ich immer für andere bin. Die Erfahrung meiner Lage eines Menschen, unter Millionen von Blicken in die Arena geworfen und mir selbst millionenmal entgehend, diese Erfahrung realisiere ich konkret anlässlich des Auftauchens eines Objektes in meinem Universum, wenn dieses Objekt mir anzeigt, dass ich wahrscheinlich jetzt als differenziertes Dieses für ein Bewusstsein Objekt bin. Die Gesamtheit des Phänomens nennen wir Blick“(Sartre).

 

Was aber passiert, wenn wir uns anblicken? Wenn wir uns als Objekt eines Dieses und als Objekt für andere Bewußtseine wahrnehmen, in den Blick genommen sind, internalisiert-sind, dann stellt dies im Angeblickt-sein die Überprüfung der Internalisierung von Regeln dar, als eine Grundvorrausetzung des Erkennens und Wahrnehmens: dem Angeblickt-werden. Bei einem öffentlichen Auftritt wird in den Blicken der Andere enthüllt, d.h. der Andere wird in seiner Existenz enthüllt und erkannt.

 

Für Sartre bedeutet dies, dass das Angeblickt- werden zur Existenz eines reflexiven Bewusstseins gehört, als eine kommunikative Praxis, als Konstitution einer sozialen Identität. Der Blick zeigt immer schon auf den Anderen: Der Blick kann nicht Bestandteil, Objekt für sich sein, sondern ist nur in Beziehung zu anderen zu denken. Dies bedeutet, dass jedoch nicht das Sein des Anderen zu bestimmen oder festzuschreiben wäre, sondern die Fähigkeiten des Menschen in Beziehungen zu einander zu leben und sich darin erst als solche zu erkennen. Simmel beschreibt diesen Vorgang als, „in dem Blick, der den anderen in sich aufnimmt, offenbart man sich selbst; mit demselben Akt, in dem das Subjekt sein Objekt zu erkennen sucht, gibt es sich hier dem Objekt preis. Man kann nicht durch das Auge nehmen, ohne zugleich zu geben. Das Auge entschleiert dem Anderen die Seele, die ihn zu entschleiern versucht“ (Simmel).

 

Identität besteht demnach nicht durch Konstruktion, sondern als reflexive Erkenntnisleistung von Menschen, wenn sich Menschen in Leib und Körperbezogener Exzentrik wahrnehmen. Sarte schreibt hierzu: „Es ist wahr, dass ich meine Beine und meine Hände sehe, berühre und nichts hindert mich, mir ein sensibles Gerät auszudenken, mit dem ein Lebewesen eines seiner Augen sehen könnte, während das gesehene Auge seinen Blick auf die Welt richtet. Aber es ist festzuhalten, dass ich auch noch in diesem Fall in Bezug zu meinem Auge der andere bin: ich erfasse es als ein in der Welt konstituiertes Sinnesorgan von der und der Beschaffenheit, doch ich kann es nicht ‘sehen. Sehen’, das heißt es erfassen, insofern es mir einen Aspekt von Welt enthüllt. Entweder ist es Ding unter den Dingen, oder aber es ist das, wodurch sich mir die Dinge entdecken. Aber beides gleichzeitig kann es nicht sein. In ähnlicher Weise sehe ich auch meine Hand die Objekte berühren, aber in ihrem Berührungsakt erkenne ich sie nicht,“ d. h. „meine Hand enthüllt mir den Widerstand der Objekte, deren Härte oder Weichheit, und nicht sich selbst.“(Sartre)

 

Durch den Blick des anderen wird man räumlich und zeitlich erfasst und erfährt dies als Erlebnis der Gleichzeitigkeit: „Die Scham enthüllt mir, dass ich dieses sein bin. Nicht nach dem Modus von ‘war’ oder von ‘Zu-Sein-haben’, sondern an-sich.“... Es genügt, daß der andere mich anblickt, damit ich das bin was ich bin- für den anderen.

 

In Echtzeit chatten kann diese Gleichzeitigkeit des Blicks nicht erlangen. „Die Gleichzeitigkeit aber setzt die zeitliche Verbindung zweier Existierender voraus, die durch keinerlei anderen Bezug verbunden sind. Zwei Existierende, die eine Wechselwirkung aufeinander ausüben, sind nicht gleichzeitig, eben weil sie demselben System angehören. Die Gleichzeitigkeit gehört also nicht den Existierenden der Welt an, sie setzt die Mitanwesenheit zweier bei der Welt Anwesender voraus, als Anwesenheiten als Anwesenheiten bei.“

 

Verändert sich etwas, wenn wir kommunizieren, ohne uns anzublicken?

 

Schamgefühle können in dieser Betrachtung der kontingenten und kommunikativen Funktionen der Blicke übertragen auf neue Medien erklären, warum Menschen, sobald sie sich ins Internet begeben, schamloser, furchtloser werden und geachtete Intimgrenzen des anderen missachten, obwohl mögliche Verletzungen und Demütigungen, die Menschen im Internet erleben, den Verletzungen im realen Leben oft in nichts nachstehen.

 

Der Blick besitzt eine zäsurierende Funktion: der gesenkte Blick vor Autoritätspersonen, man senkt die Augen um Fremden zu signalisieren, dass man sie nicht angreifen will; die Herr/Knecht Problematik als Vermeidung einer Symmetrie, im Gegensatz von sich Liebenden, die eine Aufhebung der Symmetrie anstreben. Die Kommunikationsverhältnisse können so in jeglicher Hinsicht umgekehrt werden; durch die Möglichkeiten des Blickens. Anhand der "leeren" Reziprozität des Blicks, können komplexe Kommunikations- und Handlungsanforderungen in alltäglichen Begegnungen bewältigt werden, obwohl diese sich sehr oft durch das Phänomen der doppelten Kontingenz auszeichnen: A weiß nicht was B macht, unterstellt, dass dieser es auch nicht wissen könne...

 

Durch das Phänomen „Blick“ können die Bedingungen von Vergesellschaftung, die Fähigkeit von Menschen sich zu vernetzen, betrachtet werden. Bewegen wir uns als Sehende in einer Welt, die als Sichtbare bedeutet, dass dieses Sichtbare in uns als Sehende übergehen könnte, dann bedeutet dies, das wir uns diesem Sichtbaren gegenüber immer schon reflektierend verhalten. Dass wir Sehen können, ist dann nicht das Ergebnis besonderer Lichtverhältnisse, sondern beinhaltet die Annahme, dass nicht nur die Dinge, die wir anblicken eine „souveräne Existenz“ (Merleau-Ponty) besitzen, sondern wir selbst möglicherweise auch.

 

„Woher kommt es, dass unser Sehen, sie (die Dinge) dabei an ihrem Ort belässt, dass der Blick, den wir auf sie werfen, uns von ihnen herzurühren scheint und dass ihr Gesehensein für sie nur eine Abschwächung ihres eminenten Seins darstellt? Worin besteht jene magische Kraft der Farbe, jenes einzigartige Vermögen des Sichtbaren, das bewirkt, dass es, in Sichtweite gehalten, doch mehr ist als bloßes Korrelat meines Sehens, dass es mir mein Sehen aufdrängt als Wirkung seiner souveränen Existenz? Woher kommt es, dass mein Blick dadurch, dass er sie einhüllt, sie nicht verbirgt, und dass er sie schließlich enthüllt dadurch, dass er sie verhüllt?“

 

Die Reziprozität des Erblickens und Angeblickt-werdens, das sich hier auf die Dinge und dem Verhältnis dieser zur Welt bezieht, stellt sich als eine Welt des Sichtbaren dar, die einen Zwischenraum besetzt, weil sie weder Hülle der Welt ist, noch Eingekörpertes, sondern ein quale (eine Haut des Seins ohne Dichte, Porösität, Diffusion) ein Bindegewebe zwischen inneren und äußeren Horizonten (Grenzen).

 

Sartre versucht nun nicht wie Merleau Ponty den Blick über die Welt der Dinge, das Sichtbare, schweifen zu lassen, sondern stellt anhand einer fundamentalen Anwesenheit, der An- und Abwesenheit von Personen fest, dass dies eine wechselseitige Anwesenheit sei: „ein Sein wird situiert, nicht durch seinen Bezug zu Orten, durch seinen Längen und Breitengrad, es situiert sich in einem menschlichen Raum...“

 

Das Wissen um die eigene Anwesenheit setzt das Wissen über die Anwesenheit des Anderen voraus. Das die Anwesenheit des Anderen jeweils mitbedacht ist, kann anhand des Erschreckens von Menschen über Geräusche in dunklen Wäldern, Parks oder Muds, dem Cyberspace gesehen werden, d.h. wenn sich jemand bei etwas ertappt fühlt, obwohl eigentlich niemand sonst anwesend sein kann.

 

Diese „ursprüngliche Anwesenheit“ des Anderen erklärt Sartre damit, dass dieser nur in einem „Erblickt-Sein, Erblickend-Sein, einen Sinn haben,“ kann „das heisst je nachdem, ob der andere für mich Objekt ist oder ich selbst Objekt für den anderen bin. Das Für-Andere-Sein ist ein ständiges Faktum meiner menschlichen Realität, und ich erfasse es mit seiner faktischen Notwendigkeit im kleinsten Gedanken, den ich mir über mich mache“ (Sartre).

 

Jeder Augenblick ist somit ein gerichtet-sein auf den Anderen? Dies kann als anthropologische Bedingung menschlicher Wahrnehmung gelten, denn Sartre zeigt anhand der Erfahrungen des Menschseins, dass diese darin besteht, sich als Mensch unter Menschen wahrzunehmen, so dass Kommunikationsverhältnisse von Menschen reziprok und reflexiv sein müssen, denn sonst gäbe es kein Situiert-Sein des Menschen in einer Gemeinschaft. Menschen blicken sich an und konstituieren sich damit als Teil einer grundlegenden menschlichen Gemeinschaft.

 

Quellenangaben schicke ich gerne auf Anfrage: info[at]fehe.org

 

"Ich seh die Blicke, seh die Blicke, wie sie alle wegschweifen..."(Murat)

 

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