Mattias Iser, Gerechtigkeit und Anerkennungerschienen in: Möhring-Hesse, Matthias (Hg.): Streit um die Gerechtigkeit. Themen und Kontroversen im gegenwärtigen Gerechtigkeitsdiskurs. Schwalbach/Taunus: Wochenschau 2005. 118-129.
Angesichts des globalen Standortwettbewerbs und leerer öffentlicher Kassen ist der Sozialstaat in Bedrängnis und die Politik in eine Legitimationskrise geraten. In einer solchen Situation mag es verlockend erscheinen, die Gerechtigkeitssemantik aufzugeben und sich nach einem weniger anspruchsvollen Gesellschaftsideal umzusehen. War es also reiner Zufall, dass die SPD 1999, ein Jahr nach dem Regierungsantritt, im Rahmen ihrer programmatischen Veranstaltungsreihe „Philosophy meets Politics“ den israelischen Sozialphilosophen Avishai Margalit einlud, um seinen Entwurf einer „anständigen Gesellschaft“ zu diskutieren? Die „anständige“ Gesellschaft stellt für Margalit gegenüber der „gerechten“ Gesellschaft, die John Rawls Anfang der 70er Jahre so wirkungsmächtig propagiert hatte, das vordringlichere Ziel dar. Der Politik müsse es primär darum gehen, das Übel der Demütigung zu vermeiden und alle Menschen in ihrer gleichen Würde anzuerkennen. Nur von sekundärer Bedeutung sei es demgegenüber, eine gerechte(re) Verteilung von Gütern im Rawls’schen Sinne anzustreben, dem zufolge Ungleichheiten den Schlechtestgestellten zum größtmöglichen Vorteil gereichen müssen (Rawls 1975: 98ff.). Margalit bedient sich denn auch einer einprägsamen Metaphorik: Wer mit seinem Flugzeug auf dem Weg zu seiner fernen Trauminsel sei, aber bemerke, dass das Benzin für diese Strecke nicht reiche, täte gut daran, ein näher gelegenes, wenn auch weniger attraktives Ziel anzusteuern. Fatal wäre es hingegen, an der vorhergesehenen Route festzuhalten, weil man dann über dem Meer abstürzen und ertrinken würde (1997, 323f.; 2001, 25). Eruierte die SPD als „Partei der sozialen Gerechtigkeit“ mit dieser Veranstaltung vorsorglich ein alternatives und kostensparendes Leitbild?
Bereits innerhalb der akademischen Diskussion ist freilich umstritten, ob die Umstellung auf den Begriff der Anerkennung die Politik wirklich entlasten würde. So wird sich nach einer kurzen Einführung in den Begriff der Anerkennung (1.) zeigen, dass die Verhältnisbestimmungen von Anerkennung und Gerechtigkeit unterschiedlicher kaum ausfallen könnten: Während Margalit die anständige Gesellschaft als weniger anspruchsvoll zu begreifen scheint als die gerechte (2.), versteht die amerikanische Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser Anerkennung neben Umverteilung als eine von zwei Dimensionen der Gerechtigkeit (3.). Demgegenüber hat der deutsche Sozialphilosoph Axel Honneth Anerkennung zum Inbegriff der Gerechtigkeit erkoren (4.). Dagegen werde ich abschließend zeigen, dass Gerechtigkeit sowohl mehr als auch weniger meinen kann als Anerkennung. Dieses Paradox löst sich freilich auf, wenn man zwei verschiedene Begriffe der Anerkennung voneinander unterscheidet (5.).
1. Was ist „Anerkennung“?
In den letzten Jahrzehnten ist in der Öffentlichkeit die Sensibilität für jene sozialen Gruppen gewachsen, die nicht primär um die vermehrte Zuteilung von Gütern kämpfen, sondern um die öffentliche Anerkennung ihrer bislang diskriminierten (z.B. kulturellen) Identität. Hierbei handelt es sich u.a. um ethnische und religiöse Minderheiten, Frauen, Schwarze, Homosexuelle oder Behinderte. Aber was ist Anerkennung? Wenn eine Person anerkannt wird, wird sie nicht nur in Bezug auf bestimmte Eigenschaften erkannt (z.B. als Muslimin), sondern in diesen auch positiv bestätigt. Diese positive Bestätigung hat eine psychische und eine normative Dimension. Ein psychisches Bedürfnis ist Anerkennung, weil Menschen nur im Umgang mit konkreten Anderen und durch die Verinnerlichung gesellschaftlicher Werte und Normen ein Bild ihrer selbst entwickeln können. Wer keine affektive Bestätigung erfährt oder wem ein negatives bzw. einseitiges Bild seiner selbst zurückgespiegelt wird, der wird es demnach schwer haben, sich selbst zu bejahen und damit seine eigenen Ziele als verfolgenswert zu begreifen. So ist eindrücklich beschrieben worden, welch psychische Beschädigungen Rassismus und Kolonialismus ihren Opfern zuzufügen vermögen. Zudem kann man einen normativen Status des Anderen anerkennen, z.B. den eines gleichberechtigten Subjekts. Dies bedeutet, dass man gegenüber dieser Person zu einer bestimmten Haltung oder zu bestimmten Handlungen verpflichtet ist.
Wie verhalten sich nun diese beiden Dimensionen, die psychische und die normative, zueinander? Sind alle Anerkennungsforderungen, weil sie ein „menschliches Grundbedürfnis“ (Taylor 1993: 13ff.) zum Ausdruck bringen, per se auch Forderungen der Gerechtigkeit, deren Erfüllung wir uns wechselseitig schulden – und deren Nichterfüllung somit eine Ungerechtigkeit, also einen Grund zur Empörung darstellt? Bevor diese Frage beantwortet werden kann, muss zunächst das Phänomen der Anerkennung noch weiter differenziert werden.
Gemeinhin werden drei Formen der Anerkennung unterschieden: Achtung, Wertschätzung und liebende Fürsorge (zu den hieraus resultierenden Politiken genauer Iser 2004, 14ff.). Achtung gilt in der Moderne als zentrale Form der Anerkennung, weil sie allen Menschen als Menschen eine gleiche Würde zuspricht. Allerdings variieren die Vorstellungen davon, welche Behandlung bzw. welche spezifischen Rechte uns aufgrund unseres Menschseins zukommen sollten – und zwar nicht nur historisch und kulturell, sondern auch innerhalb einzelner Gesellschaften. Fordert die Achtung vor dem Anderen z.B. auch, ihm soziale Rechte zuzuerkennen? Und wenn, welche? Nun erschöpft sich unsere Identität nicht darin, ein Mensch wie alle anderen zu sein. Daher fordern Personen oder Gruppen oftmals eine Wertschätzung jener besonderen Aspekte der eigenen Identität ein, die in den Wertvorstellungen und Normalitätsbestimmungen der dominanten Kultur bislang nicht berücksichtigt wurden. Es sind diese Auseinandersetzungen, die den Begriffen der „Politik der Anerkennung“ und der „Identitätspolitik“ zu ihrer Konjunktur verholfen haben. Umstritten ist jedoch, warum diese Differenzen berücksichtigt werden sollten. Drei Positionen lassen sich grob unterscheiden: Eine erste, eher liberale Position vertritt die Auffassung, man schulde z.B. türkischen Mitbürgern die Anerkennung als gleichberechtigten Menschen und solle deshalb ihre besonderen Eigenschaften berücksichtigen. Dagegen glaubt eine zweite, stärker kommunitaristisch inspirierte Position, man solle diese Mitbürger aufgrund ihrer Besonderheit wertschätzen und müsse sich daher „der“ türkischen Kultur möglichst vorurteilslos nähern. Diese Position sieht sich angesichts des Wertepluralismus, der moderne Gesellschaften kennzeichnet, allerdings dem Problem konfrontiert, dass die angelegten Wertstandards keineswegs allgemein geteilt werden. Um diesem Problem zu entgehen, ist drittens als hinreichend formaler Bezugspunkt der Wertschätzung das Kriterium der Leistung vorgeschlagen worden. Dieses sei offen genug für historisch und interkulturell verschiedene Vorstellungen davon, welche Art von Leistung relevant ist (Honneth 1992, 205; Fraser/Honneth 2003, 165ff.).
Die dritte Dimension einer Anerkennung konkreter Individualität in Beziehungen liebender Fürsorge wird v.a. von psychoanalytisch orientierten Ansätzen als die grundlegende Form der Anerkennung begriffen. Die Erfahrung einer unbedingten Fürsorge durch eine konkrete Bezugsperson soll bereits dem Säugling das Gefühl geben, geborgen und geliebt, damit aber auch liebenswert zu sein. Erst das damit erworbene Welt- und Selbstvertrauen stelle die Basis der beiden weiteren Dimensionen eines gelingenden Selbstbezuges – Selbstachtung und Selbstwertschätzung – dar. Um ein gelingendes Selbstverhältnis auszubilden, bedürfen wir also der Anerkennung in drei verschiedenen Formen, nämlich Achtung, Wertschätzung und liebende Fürsorge. Aber sind diese Anerkennungsbedürfnisse eine Frage der Gerechtigkeit? Folgen aus ihnen Ansprüche, deren Einlösung wir im Sinne eines moralischen Rechts wechselseitig voneinander fordern können?
2. Avishai Margalit – Anerkennung unterhalb der Gerechtigkeit
Margalits Konzeption einer anständigen Gesellschaft konzentriert sich der Intention (wenn auch nicht immer der Durchführung) nach allein auf die Anerkennungsdimension der Achtung. Gleichwohl bilden nicht die „positiven“ Begriffe der Achtung oder Würde, sondern der „negative“ der Entwürdigung oder Demütigung (humiliation) den Dreh- und Angelpunkt seiner normativen Philosophie. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Erfahrung des Holocaust glaubt Margalit, die vordringliche Aufgabe der politischen Theorie und Philosophie sei es, Übel zu vermeiden. Nach der physischen Grausamkeit, die bereits in einer „gezügelten“ (bridled) Gesellschaft geächtet ist (1997, 179), besteht für Margalit das zentrale Übel in Akten der Demütigung. Demütigung ist für Margalit ein normativer, kein psychologischer Begriff: Wir müssen berechtigte Gründe haben, uns gedemütigt zu fühlen. Die – wenn auch leidvolle – Fehlwahrnehmung einer berechtigten Kritik als Missachtung stellt somit keine Demütigung dar, die es zu vermeiden gilt. Sicherlich: Wer mehr Anerkennung einklagt, meint, sie zu verdienen. Aber offensichtlich kann diese Meinung falsch sein, wenn die Ansprüche ungerecht oder überzogen sind, z.B. wenn Rassisten als höherwertige Menschen oder mittelmäßige Maler als Genies anerkannt werden wollen. Berechtigte Gründe, sich gedemütigt zu fühlen, haben Menschen Margalit zufolge vor allem, wenn sie symbolisch und in der Folge auch materiell aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen, wie Tiere oder Maschinen behandelt werden. Aber auch weniger extreme Formen der Entrechtung stellen für ihn eine Demütigung dar, weil hier zwar nicht unbedingt geleugnet wird, dass es sich bei den Betroffenen um Menschen handelt, wohl aber, dass ihnen der gleiche moralische und rechtliche Status zukommt. So wurden z.B. Frauen lange wie Kinder behandelt statt als mündige Erwachsene (59). Margalit deutet an, dass eine anständige Gesellschaft in zweifacher Weise mehr oder anderes fordern könnte als eine gerechte Gesellschaft. Erstens berücksichtige Rawls’ Differenzprinzip nur die Höhe der Umverteilung von Einkommen und Vermögen, nicht aber die Art und Weise der Umverteilung. Gerade diese könne aber entwürdigend sein, wenn z.B. Beamte auf öffentlichen Ämtern ihre „Klienten“ lediglich wie Nummern behandeln (320f.; Ignatieff 1993, 15f.). Zweitens muss eine Politik der Achtung Margalit zufolge versuchen, auch die kulturellen Umgangsformen positiv zu beeinflussen. Zwar wendet sich Margalit v.a. an staatliche Institutionen und ihre Repräsentanten, weil diese über ein besonders großes Potenzial zur (gewaltsamen) Demütigung verfügen. Gleichwohl bezieht Margalit zudem (sub)kulturelle Institutionen ein, weil wir auch in den Arenen der Öffentlichkeit und in der Privatsphäre in unserer Selbstachtung beschädigt werden können. In Bezug auf die Höhe der Verteilung bleibt die anständige Gesellschaft allerdings ein weniger anspruchsvolles Ideal als die gerechte Gesellschaft. Margalit zufolge kann uns zwar in bestimmten Fällen auch eine mangelnde Güterausstattung demütigen; aber diese Ungerechtigkeiten müssten sehr drastisch ausfallen (so auch Gosepath 2004, 105). So tritt Margalit vorerst nur für eine Minimalausstattung mit Gütern ein, die allen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht (1997, 259ff.; Krebs 1999), aber durchaus vereinbar ist mit einer ungleichen Grundgüterverteilung, die nach Rawls nicht gerecht wäre. Wo genau die Grenze zwischen Entwürdigung und Ungerechtigkeit verläuft, lässt Margalit jedoch offen (1997, 260).
3. Nancy Fraser – Anerkennung als Teil der Gerechtigkeit
Nancy Fraser versteht ihren Vorschlag einer „partizipatorischen Parität“ (Fraser/Honneth 2003, 55f.) hingegen explizit als Gerechtigkeitstheorie, die für alle Bürgerinnen und Bürger die gleichberechtigte Teilnahme am öffentlichen Leben sichern soll. Hierzu bedarf es nicht bloß der „negativen“ Vermeidung von Demütigung, sondern der positiven Anerkennung als Bürger mit gleichem moralischen Status. Fraser konzentriert sich somit – ebenso wie Margalit – auf die Anerkennungsdimension gleicher Achtung und sieht bloß die gleiche Chance auf Wertschätzung vor. Die Achtung aller auch in ihrer Besonderheit soll dabei keineswegs psychologisch verstanden werden: Eine Missachtung stelle auch dann eine Ungerechtigkeit dar, wenn sie nicht zu psychischen Schäden führt (47f.). Neben der intersubjektiven Anerkennung des gleichen Status bedarf es aber auch grundlegender materieller Güter, also der Umverteilung.
Diese Theorie, die Anerkennung und Umverteilung als zwei irreduzible Dimensionen der Gerechtigkeit begreift, ist einerseits eine bewusste politische Intervention in das Selbstverständnis der neuen sozialen Bewegungen. Mitte der 1990er Jahre befürchtete Fraser nämlich, dass die damals in den USA politisch immer einflussreicher werdende „Identitätspolitik“ in bedenklicher Weise das mindestens ebenso wichtige Thema der Umverteilung von der politischen Agenda verdrängen würde. Nur mit dieser zweidimensionalen Theorie decke man all das ab, was wir unter „Gerechtigkeit“ verstehen. Andererseits sollen sich Missachtung und Verteilungsungerechtigkeit auf jeweils andere kausale Ursachen zurückführen lassen – kulturelle Bewertungsschemata einerseits und ökonomische Verwertungsimperative andererseits. Erst mit dieser Unterscheidung bekommt die Gesellschaftskritik somit die relevanten Ursachen in den Blick. Fraser illustriert dies an zwei idealtypisch konstruierten Fällen: Während Homosexuelle v.a. an den diskriminierenden Praktiken einer heterosexuell geprägten Kultur litten, würden Arbeiter v.a. durch die Struktur der kapitalistischen Ökonomie ausgebeutet. Fraser sieht zwar, dass Homosexuelle ebenfalls mit ökonomischen Nachteilen zu kämpfen haben und auch die Leistung der Arbeiter als weniger wertvoll eingestuft wird. Aber die eigentliche Ursache der Ungerechtigkeit liegt ihr zufolge im Fall der Missachtung im kulturellen Bereich, in jenem der Ausbeutung im ökonomischen (27ff.). Fraser ist diese Trennung wichtig, weil die funktionale Eigenlogik der kapitalistischen Ökonomie, die sich allein am Ziel der Profitmaximierung ausrichtet, durch eine allzu normativ ansetzende Anerkennungstheorie gar nicht mehr angemessen erfasst werde. Zudem ließen sich erst durch eine solch zweidimensionale Theorie praktische Konflikte zwischen Politiken der Umverteilung und solchen der Anerkennung erkennen und auflösen. Faktisch hätten wir es bei den meisten Ungerechtigkeiten nämlich mit einer Verbindung von kultureller Missachtung und ökonomischer Ausbeutung zu tun. Als besonders prägnante Beispiele führt Fraser Gruppen an, die mittels der Kategorien gender (Geschlecht) oder race (Hautfarbe) konstituiert werden. So litten Frauen und Schwarze nicht nur unter einer diskriminierenden Statusordnung, sondern auch unter einer Ökonomie, deren Funktionieren darauf beruht, unbezahlte Hausarbeit und schlechter bezahlte Lohnarbeit weiblich und Hilfsarbeiten und überflüssige Arbeitskraft rassistisch zu kodieren. Verteilt man in solchen Fällen, in denen sich die zwei Dimensionen der Ungerechtigkeit überschneiden, um, ohne die Anerkennungsbeziehungen zu berücksichtigen, werden die Empfänger mitunter in missachtender Weise als „Sozialschmarotzer“ stigmatisiert, verlieren also an Anerkennung. Und im Prinzip richtige Politiken der Anerkennung, z.B. Maßnahmen gegen die Verdinglichung von Frauen durch Prostitution und Pornographie, können den normativ unerwünschten Nebeneffekt zeitigen, die ökonomische Position der Betroffenen drastisch zu verschlechtern (90f.).
4. Axel Honneth – Anerkennung als Inbegriff der Gerechtigkeit
Während Fraser also hofft, bestimmte praktische Probleme der Frauenbewegung, mit der sie sich selbst identifiziert, durch ihre zweidimensionale Theorie besser erfassen zu können, besteht Axel Honneth darauf, ein anerkennungstheoretischer Ansatz sei keineswegs kulturalistisch verengt. Der Begriff der Anerkennung müsse nur hinreichend ausdifferenziert werden, um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit zu erfassen. Honneth will nämlich mit seiner Form der Gesellschaftskritik genau jene Erfahrungen normativ erhellen, die zu sozialem Widerstand motivieren: nämlich Erfahrungen der Missachtung, die das Selbstverständnis der Betroffenen verletzen. Um Erfahrungen einer verspürten und normativ relevanten Verletzung kann es sich freilich nur dann handeln, wenn die Betroffenen zuvor die berechtigte Erwartung gehegt haben, sie dürften nicht in dieser Weise behandelt werden. Damit aber muss sich für jede Gesellschaft eine Anerkennungsordnung rekonstruieren lassen, deren Prinzipien festlegen, welche Form der Anerkennung wem aus Gründen der Gerechtigkeit zukommt. In modernen Gesellschaften erwarten wir Honneth zufolge nun genau jene drei Formen der Anerkennung, die ich im ersten Abschnitt ausgeführt habe: Wir erwarten, von allen Menschen geachtet, von unseren Mitbürgern für unsere Kooperationsleistungen wertgeschätzt und von unseren Freunden, Partnern und Familienangehörigen ‚geliebt’ zu werden (Honneth 2000, 2001). Mit Hilfe dieser Theorie sollen auch Forderungen nach Umverteilung als Fragen der Anerkennung dechiffriert werden. Erstens habe sich unser Verständnis dessen, was wir Anderen aufgrund ihres Status als gleichberechtigten autonomen Menschen schulden, historisch erweitert und umfasse nun auch soziale Rechte. Jedem komme qua gleichem Bürger ein Mindestmaß an grundlegenden Gütern zu, um die rechtlich garantierten Freiheiten auch faktisch nutzen zu können. Zweitens könne jeder das Leistungskriterium in Anschlag bringen, um eine angemessenere Entschädigung seiner Arbeit einzuklagen, weil dieses für den Kapitalismus als eben auch kulturellem Gebilde konstitutiv sei (kritisch hierzu Nullmeier 2003, 402ff.). Erst wenn man derart auch Umverteilung als Anerkennungsproblem verstünde, könne man überhaupt erklären, warum sich die Menschen empören – weil sie sich nämlich durch eine wahrgenommene Ungerechtigkeit in ihrer Identität getroffen fühlen. Honneths Argumentation stützt sich auf folgende Intuition: Ungerechtigkeiten bemessen sich nicht an der tatsächlichen Höhe der dem einzelnen verfügbaren Güter. Vielmehr kommt es für unsere Empörung darauf an, ob sich in der Güterverteilung eine Missachtung ausdrückt. Nicht jedes Unglück stellt eine Ungerechtigkeit dar. Vielmehr reden wir von Ungerechtigkeiten nur, wenn unsere begründeten Erwartungen durch andere Personen enttäuscht werden; sei es direkt durch Haltungen oder Handlungen oder indirekt durch die Akzeptanz der herrschenden Institutionen (vgl. Shklar 1992). Gerechtigkeit und Anerkennung erläutern sich insofern wechselseitig. Durch welche Ursachen es zu einer Missachtung der Anerkennungsprinzipien kommt – ob durch ökonomische, kulturelle oder gar politische – ist für Honneth zwar empirisch wichtig, um angemessene Lösungsstrategien ermitteln zu können; aber als normativ problematisch werden ökonomische, kulturelle oder eben auch politische Zustände doch nur wahrgenommen, wenn und weil sie unsere legitimen Ansprüche unterlaufen und uns insofern missachten.
5. Anerkennung als das Gleiche oder das Andere der Gerechtigkeit?
Zwei Gründe sprechen jedoch gegen Honneths Vorschlag, Anerkennung und Gerechtigkeit in eins zu setzen: Erstens hängt die Frage, ob jede Ungerechtigkeit notwendigerweise eine Missachtung darstellt, vom zugrunde gelegten Anerkennungsbegriff ab. Gerechtigkeit kann durchaus mehr meinen als Anerkennung. Und zweitens gibt es Anerkennungserwartungen, denen kein moralisches Recht korrespondiert. Gerechtigkeit kann somit auch weniger meinen als Anerkennung. Wie kommt es zu diesem paradoxal klingenden Ergebnis?
Um die erste Frage zu beantworten, ob Gerechtigkeit nicht doch mehr umfasst als Anerkennung, muss freilich erst geklärt werden, in welchem Sinne von „Anerkennung“ gesprochen wird – ob im Sinne eines psychischen Bedürfnisses oder eines normativen Status. Honneth rekurriert an zentralen Stellen auf Anerkennung als einer psychischen Bedingung von Autonomie, also der Fähigkeit zur Verfolgung unserer begründet gewählten oder zumindest nachträglich bestätigten Ziele. Freilich müssen neben diesen psychischen weitere Bedingungen erfüllt sein, damit Menschen ein autonomes Leben führen können: Menschen bedürfen zudem ausreichender Ernährung und Kleidung, Gesundheit und Bildung. Nur der Einbezug solch materieller, physischer und kognitiver Aspekte lässt verständlich werden, warum man selbst dann Opfer einer Ungerechtigkeit sein kann, wenn man nicht absichtlich missachtet wurde oder die Autonomieschädigung gar nicht bewusst erlebt. Die Opfer verfügen mitunter erst gar nicht über ein angemessenes Sensorium, weil sie – aufgewachsen in ungerechten Zuständen – ideologisch verzerrte Präferenzen ausgebildet haben und eine bessere Behandlung gar nicht erwarten.
Allerdings werden die Betroffenen auch bei diesen Schädigungen in ihrem Status als gleichberechtigte Subjekte missachtet. Aber die Anerkennung dieses Status beinhaltet den Schutz aller unserer vitalen Interessen, nicht nur des einen, wenn auch zentralen Interesses an psychischer Integrität. So vermag uns erst eine umfassende Theorie der notwendigen Bedingungen eines autonomen, ja, guten Lebens eine Vorstellung davon zu vermitteln, was die Gerechtigkeit von uns fordert (Robeyns 2003 in Bezug auf Sen, Ladwig 2000). Aus diesem Grund wird die Gerechtigkeit zu eng gefasst, wenn als ihre einzige Aufgabe der Schutz unseres intersubjektiv konstituierten Selbstverhältnisses bestimmt wird. Auch daraus, dass wir jedes Unrecht im Modus der Missachtung erfahren können, folgt keineswegs, dass ein jedes Unrecht inhaltlich in dem Aspekt aufgeht, die Psyche zu verletzen. Daher schlage ich vor, den Statusbegriff der Anerkennung als höherstufige Kategorie zu verstehen, die festlegt, was uns gerechterweise zusteht, nämlich unter anderem bestimmte Formen psychischer Anerkennung und materielle Umverteilung (hierzu sehr viel genauer Iser 2008: 216ff.). Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung kann aber auch Frasers Argument nicht überzeugen: Weil sie Anerkennung im Sinne eines normativen Status begreift, müsste sie auch eine ungerechte Verteilung als Missachtung verstehen. Denn eine ungerechte Verteilung verletzt meinen Status als gleichberechtigte Person, weil sie entweder meine gleichen sozialen Rechte untergräbt oder meine Leistung ungerecht bewertet. Genau hierauf verweist Honneth in seiner Antwort. Wenn Fraser Fragen der Anerkennung als einen Aspekt der Gerechtigkeit jenen der Umverteilung als einem anderen Aspekt an die Seite stellen will, müsste auch sie Anerkennung im Sinne eines psychischen Bedürfnisses verstehen.
Auch Margalit erachtet ungleiche Güterverteilungen als normativ relevant, wenn sich hierin eine Missachtung unseres gleichen Status als Mensch ausdrückt (2001, 26). Allerdings ist das Maß der Anerkennung, das Margalit für eine anständige Gesellschaft reklamiert, weitaus geringer als jenes, das Honneth anvisiert. Wer von den beiden hat nun aber recht? Wie anspruchsvoll sollte unser normatives Gesellschaftsideal ausfallen?
Der zweite Einwand gegen die These, Gerechtigkeit und Anerkennung seien identisch besagt denn auch, eine gerechte Gesellschaft meine mitunter weniger als Anerkennung in allen drei Dimensionen: Eine Gesellschaft, in der alle Menschen geachtet, wertgeschätzt und geliebt würden, stelle ein noch anspruchsvolleres Ziel dar als eine gerechte Gesellschaft. Nicht allen Anerkennungserwartungen korrespondiert nämlich ein (moralisches) Recht. Dies lässt sich am besten anhand des Anerkennungsbedürfnisses der Liebe illustrieren. Stellen wir uns vor, dass eine Person vergeblich hofft, einen liebenden Partner zu finden. Sicher ist diese Situation beklagenswert, stellt aber keine Ungerechtigkeit dar, weil niemand ein Recht geltend machen kann, geliebt zu werden. Nun gesteht auch Honneth zu, dass Haltungen der liebenden Fürsorge nur jenen zugemutet werden können, die mit der betreffenden Person bereits eine familiäre, intime oder freundschaftliche Beziehung unterhalten. Stellen wir uns jedoch weiter vor, die betreffende Person habe gleichfalls keine glückliche Kindheit erfahren, weil ihre Eltern sie nicht hinreichend liebten. Die Eltern konnten die Beziehung natürlich nicht aufkündigen und kamen allen ihren sonstigen spezifischen Pflichten (z.B. der finanziellen Versorgung des Kindes) stets nach. Das Problem ist in beiden Fällen – des fehlenden Partners und der lieblosen Eltern –, dass die affektive Befriedigung des Bedürfnisses nach liebevoller Zuneigung nicht intentional herbeigeführt werden kann. Sollen impliziert immer ein Können. So können und müssen die Eltern davon absehen, das Kind ihre eventuell gar vorhandene Abneigung spüren zu lassen; aber sie können sich nicht zwingen, es zu lieben. Wir mögen die Eltern als hartherzig tadeln; im strikten Sinne ungerecht handeln sie nicht.
Wie aber steht es mit der Gesellschaft als Ganzer – ist sie ungerecht, wenn ihre Mitglieder nicht hinreichend liebevolle Beziehungen zu erfahren vermögen? Angesichts täglich erfahrbarer materieller Not auf unseren Straßen sind wir als Einzelne zwar überfordert und stoßen auf Grenzen der Zumutbarkeit; jedoch vermag der Staat als kollektive Instanz einzuspringen, z.B. mit rechtlich verbürgter Sozialhilfe. Aber kann der Staat individuelle Bedürfnisse nach liebender Fürsorge befriedigen? Sicherlich mag man eine Gesellschaft als „anständiger“ begreifen, die nicht nur respektvoll mit den „Klienten“ des Sozialstaats umgeht, sondern z.B. bei der Altenpflege durch eine längere Betreuungszeit strukturell erst die Möglichkeit schafft, individuell bedeutsame und liebevolle Beziehungen zwischen Betreuern und Betreuten aufzubauen. Allerdings kann die Politik auch hier nur die sozialen Bedingungen für gelingende Intimbeziehungen verbessern. Tätig werden kann und muss sie aber angesichts unflexibler bzw. langer Arbeitszeiten für Eltern und schlechter Betreuungsangebote für Kinder, hoher beruflicher Mobilitätsanforderungen, die Beziehungen gefährden, oder kultureller Wertungsmuster, die eine Reziprozität zwischen den Partnern erschweren, indem sie z.B. Rücksichtslosigkeit als ‚männlich’ gutheißen. Eine Gesellschaft, deren soziale Struktur es bestimmten Gruppen in besonderem Maße erschwert, Beziehungen der Fürsorge aufzubauen, z.B. den ohnehin ausgebeuteten Arbeitern zu Zeiten von Karl Marx, könnte man vielleicht für ihre ungleiche Verteilung der Chance auf Anerkennung in der Dimension der Liebe als ungerecht kritisieren. Schwerer dürfte dies jedoch angesichts einer gesellschaftlichen Struktur fallen, die gerade von den Besserverdienenden mit hohem sozialen Status und Prestige verlangt, möglichst mobil zu sein und damit bedeutsame Beziehungen aufzugeben oder gar nicht erst einzugehen (Sennett 1998). Eine solche Gesellschaft scheint nicht wirklich ungerecht zu sein – denn wer schädigte hier wen? –, sondern verbesserungswürdig. Honneth spricht in diesem Zusammenhang von gesellschaftlichen „Pathologien“, also Krankheiten (Honneth 2000, Kap. 1; 2004, 112). Eine pathologische, aber nicht ungerechte Gesellschaft enthält den Menschen keine Anerkennung vor, die man ihnen schuldet. Vielmehr ermöglicht sie erst gar nicht jene Beziehungen, in denen man sich diese Form der Anerkennung überhaupt schulden könnte. Sie schöpft bestimmte Möglichkeiten nicht aus, die zu einem guten Leben ihrer Mitglieder beitragen würden. Die hiermit bezeichnete Vision einer „guten“ Gesellschaft ist somit anspruchsvoller als jene der „gerechten“ und insbesondere als die der „anständigen“ Gesellschaft (so auch van den Brink 1999).
Würde es die Politik also entlasten, die Rhetorik der Gerechtigkeit durch jene der Anerkennung zu ersetzen? Margalits anständige Gesellschaft scheint trotz aller Unklarheiten ein weniger anspruchsvolles Ideal zu proklamieren. Dies liegt jedoch nicht daran, dass die Idee der Anerkennung weniger fordert als die Idee der Gerechtigkeit, sondern an Margalits „negativer“ Orientierung an dem zu vermeidenden summum malum eines entwürdigenden Ausschlusses aus der menschlichen Gemeinschaft. Das wechselseitig forderbare Ziel einer gerechten Gesellschaft beinhaltet die Zuerkennung eines gleichen normativen Status für alle. Derart anerkannt zu sein, bedeutet nicht nur, dass die geschuldeten materiellen Bedingungen eines autonomen Lebens gewährleistet sein müssen, sondern auch die physischen, psychischen und kognitiven Bedingungen. Eine Gesellschaft jedoch, in der bestmögliche Bedingungen zur Ausbildung eines gelingenden Selbstverhältnisses herrschten, wäre bereits mehr als eine „lediglich“ gerechte, sie wäre eine gute Gesellschaft.
Eine Übernahme der Anerkennungsperspektive dürfte also kaum Kosten sparen. Wohl aber könnte diese Perspektive zu einer größeren Sensibilität gegenüber Ungerechtigkeiten und sozialen Pathologien führen, die bislang nicht hinreichend wahrgenommen werden.
Literatur:
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Gosepath, Stefan (2004): Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
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– (2000): Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
– (2004): „Antworten auf die Beiträge des Colloquiums“, in: Halbig,
Christoph/Quante, Michael (Hg.): Axel Honneth: Sozialphilosophie zwischen Kritik und Anerkennung, Münster: LIT, S. 99-121.
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Iser, Mattias (2004): „Anerkennung“, in: Göhler, Gerhard/Iser, Mattias/Kerner, Ina (Hg.): Politische Theorie. 22 umkämpfte Begriffe zur Einführung, Wiesbaden: VS (UTB), 11-28.
– (2008): Empörung und Fortschritt. Grundlagen einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt/M. – New York: Campus.
Krebs, Angelika (1999): „Würde statt Gleichheit“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 47, H. 2, S. 290-311.
Ladwig, Bernd (2000): Gerechtigkeit und Verantwortung. Liberale Gleichheit für autonome Personen, Berlin: Akademie.
Margalit, Avishai (1997): Die Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Berlin: Fest.
– (2001): „Die anständige Gesellschaft und ihre Feinde“, in: Nida-Rümelin, Julian/Thierse, Wolfgang (Hg.) (2001): Für eine Politik der Würde (Philosophie und Politik V), Essen: Klartext, 16-29.
Nullmeier, Frank (2003): „Anerkennung. Auf dem Weg zu einem kulturalen Sozialstaatsverständnis?“, in: Lessenich, Stephan (Hg.): Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse, Frankfurt/M.: Campus, 395-418.
Robeyns, Ingrid (2003): “Is Nancy Fraser’s Critique of Theories of Distributive Justice Justified”, in: Constellations, vol. 10, no. 4, 538-553.
Sennett, Richard (1998): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: Berlin.
Shklar, Judith (1992): Über Ungerechtigkeit, Hamburg: Rotbuch.
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